Ortsbürgergemeinden sind ein seltsames Konstrukt. Sie unterteilen in Gemeinden zwischen Bürgern 1. und 2. Klasse. Im Thurgau hat man den alten Zopf abgeschafft. Aber im Kanton St.Gallen hält man (fast) eisern daran fest.
Viele Kantone haben sie abgeschafft, St. Gallen kennt sie noch: die Ortsgemeinden. Dabei handelt es sich um eine überholte politische Parallelstruktur fragwürdigen Ursprungs. Warum gibt es in einer Gemeinde Bürger erster Klasse? «Die Ostschweiz“»hat sich auf eine Spurensuche im Wahlkreis See-Gaster gemacht.
Gemäss dem St. Galler Amt für Gemeinden wohnten anfangs Jahr 504'618 Personen aufgeteilt auf 77 politische Gemeinden, 36 Schulgemeinden, 98 Ortsgemeinden, 71 örtliche Korporationen und 14 ortsbürgerliche Korporationen im Kanton. Das sind 296 verschiedenen Gemeinden, die nach dem kantonalen Gemeindegesetz organisiert sind.
Die Zahlen verraten einiges: Etwas mehr als die Hälfte aller politischen Gemeinden hat beispielsweise die Schulgemeinden integriert und bildet eine Einheitsgemeinde. Und es gibt politische Gemeinden, die bestehen aus verschiedenen Ortsgemeinden. Zum Beispiel Schänis. Der Ort in der Linthebene leistet sich nicht weniger als fünf eigenständige Ortsgemeinden (Schänis, Rufi, Dorf, Rüttiberg und Maseltrangen). Das heisst: fünf Gremien, die parallel zum Gemeindewesen laufen und Sachen entscheiden, die einen Einfluss auf alle haben, bei denen nicht alle mitreden dürfen.
Demokratisch problematisch
Einer Ortsgemeinde gehört an, wer Bürger seines Wohnortes ist. Sprich, wessen Heimat- mit dem Wohnort identisch ist. Denn nur dieser Kreis von Personen geniesst ein Wahl- und Stimmrecht. Es nutzt einem also gar nichts, zwar Bürger von Schmerikon zu sein, aber nicht dort zu wohnen. Von den 3686 Schmerkner Einwohner waren anfangs Jahr gerademal 758 Ortsbürger. Das sind 20.6 Prozent der Einwohner, die mit Sonderprivilegien ausgestattet sind. Ihnen gehören unter anderem 250 Bootsplätze oder 200 der insgesamt 597 Hektaren auf denen Schmerikon steht, verschiedene Wohn- und Gewerbeliegenschaften, sie geben Industrieland im Baurecht ab oder verpachtet landwirtschaftliche Nutzflächen.
Im Fall von Rapperswil-Jona sind es 18 Prozent der Einwohner; ihnen gehört das Stadtmuseum, Wohnsiedlungen, Restaurants, Bootsplätze oder das Bürgerspital, das heute ein Alters- und Pflegeheim ist. Warum gibt es in einer Gemeinde eine Zweiklassengesellschaft? Die Ortsbürger, die überall mitentscheiden dürfen auf der einen und die Einwohner mit Schweizer Pass, die bei den Geschäften der politischen Gemeinde mitwirken können auf der anderen?
Antizigane Gesetzgebung
Wer Ortsgemeinden verstehen will, muss etwas über das Heimatrecht nachdenken. Um die Armen bestimmten Gemeinden zuweisen zu können, damit diese sich um ihre Mittellosen kümmern, gab es bereits 1551 einen Tagsatzungsbeschluss, gemäss welchem die Gemeinden verpflichtet waren, für ihre Bettler aufzukommen.
Doch die moderne Schweizer Staatsbürgerschaft entstand erst mit der Gründung des Bundesstaates 1848. Dabei wählte die Schweiz eine einzigartige Dreistufigkeit in seinem Bürgerrecht: Gemeinde, Kanton, Bund. Den männlichen Schweizern garantierte die Bundesverfassung damals neben der Niederlassungsfreiheit auch politische Rechte in kantonalen und eidgenössischen Angelegenheiten. Davon ausgenommen waren Frauen, Juden, Mittellose und strafrechtlich Verurteilte.
Darüber hinaus gewährten die Gemeinden ihren Bürgern ein Stimm- und Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Wer allerdings länger Ortsabwesend war, über die Konfessionsgrenzen hinaus geheiratet hatte oder wer strafrechtlich verurteilt wurde, dem wurde das Heimatrecht entzogen. Ohne Nutzungsrechte oder Armenunterstützung – zum Beispiel mit einem Platz im Armenhaus - waren viele dieser Heimatlosen zu einer fahrenden Lebens- und Wirtschaftsweise gezwungen.
Doch heimatlos im eigenen Land zu sein, das passte nicht zum neuen demokratischen Staat und so wurde am 3. Dezember 1850 das «Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend» erlassen. Zirka 30'000 sogenannte Vaganten, die weder in einem anderen Kanton, noch anderen Staat oder einer Gemeinde ein Bürgerrecht besassen, wurden auf die Kantone und dann auf die Gemeinden verteilt und kamen so zu einem «Heimatort».
Der Bund verfolgte damit auch einen anderen Zweck: Er wollte die nichtsesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise einschränken. Einzelne Artikel des Bundesbeschlusses kriminalisierte verschiedene Formen der Nichtsesshaftigkeit: Verhaftet und zu Zwangsarbeit gezwungen wurden gemäss Artikel 18 «beruflos umherziehende Vaganten und Bettler». Und diejenigen, die einen Beruf hatten, denen wurde «das Mitführen von schulpflichtigen Kindern» untersagt. Nichtsesshafte Familien wurden so gezwungen, sich der bürgerlichen Lebensweise anzupassen.
Eschenbach macht’s vor
Aus dieser Denkweise heraus gibt es also Ortsgemeinden. Nur ortsansässige Ortsbürger verwalten Allgemeingut wie Wald, Wasser oder Land. Die Ortsgemeinde ist eine politische Parallelstruktur, die längst ihre Daseinsberechtigung verloren hat. Hier muss man die Diskussion nun wieder vom Heimatort loskoppeln, denn für viele Schweizer ist dieser identitätsstiftend.
Das ist auch der Grund, warum Ortsgemeinden im Kanton St. Gallen selbst nach Fusionen der politischen Gemeinden weiterhin bestehen bleiben. Man will seinen Heimatort nicht aufgeben. Das letzte Mal hat sich der Bund 2001 anlässlich der Revision des Ausweisgesetzes mit der Thematik befasst. Zur Diskussion stand, den Heimatort abzuschaffen und im Pass durch den Geburtsort zu ersetzen.
Nun gut: Ja zum Heimatort zu sagen, heisst noch lange nicht auch zum Konstrukt Ortsgemeinden Ja zu sagen.
Dass man sehr gut ohne diese Doppelspurigkeit leben kann, beweist übrigens ein Nachbarort von Schmerikon und Rapperswil-Jona: Eschenbach rühmt sich, die erste St. Galler Gemeinde zu sein, die seit dem 1. Januar 2013 eine wirkliche Einheitsgemeinde ohne jegliche Spezialgemeinden ist.
Übrigens: Der Kanton Thurgau hat den alten Zopf 1987 abgeschnitten: Die Ortsgemeinden wurden aufgelöst und in die jeweiligen politischen Gemeinden integriert. Heute gibt es 80 Thurgauer Gemeinden, die auf fünf Bezirke aufgeteilt sind. Ende 2017 wohnten 272'780 Menschen im Kanton, die abgesehen von 66'655 Personen ohne Schweizer Pass zwar alle einen Heimatort haben, der ihnen aber keinerlei Sonderrechte einräumt, auch nicht, wenn sie in ihm wohnen.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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