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Gastbeitrag

Warum wir uns nicht verstehen

Seit Corona geht ein Riss durch die Schweiz. Unversöhnlich stehen wir uns gegenüber. Was trennt uns? – Ein Gastbeitrag von Nicolas Lindt.

Nicolas Lindt am 11. Juni 2021

Seit einem Jahr stellen wir mit Erschrecken oder Bedauern fest, dass sich die Schweiz als Folge der «Pandemie» in zwei Hälften geteilt hat. Das Gift der Spaltung frisst sich mitten durch Arbeitskollegen, Familien und Freundeskreise und gefährdet sogar die Liebe. Menschen, die voneinander den Eindruck hatten, sie sprächen die gleiche Sprache, haben erkennen müssen, dass sie sich täuschten. Das ist bitter und für viele ein Schock.

Die Impfung reisst den Graben erneut auf: Impfbefürworter haben kein Verständnis für die Gegner der Impfung, weil sie uns allen doch helfen wird, wieder leben zu können wie vorher. Impfgegner dagegen verstehen nicht, warum gesunde Menschen sich impfen lassen, obwohl der Virus doch praktisch nur vorerkrankte und alte Personen gefährdet. Sie begreifen nicht, warum man sich einen chemischen Cocktail in seinen Körper hineinspritzen lässt, der wissenschaftlich viel zu wenig erforscht ist.

Wir verstehen einander nicht. Und weil es uns nicht in den Kopf will, dass die andere Seite die Wirklichkeit nicht wahrhaben will, werden wir emotional. Wir finden die Anderen dumm, realitätsblind, fanatisch oder bemitleidenswert. Das sind nur die freundlichsten Formulierungen. Wir werfen sie uns empört an den Kopf. Wir diskutieren schon gar nicht mehr. Halten uns für verrückt. Belächeln uns gegenseitig. Weichen uns aus. Hassen einander.

Wie konnte es soweit kommen? Der Grund, warum wir uns nicht verstehen, ist in einer Tiefe zu finden, wo es nicht um Dummheit und Intelligenz, um Links oder Rechts geht. Der Grund liegt in unserer unterschiedlichen Weltanschauung. Und damit ist nicht so sehr die politische Haltung gemeint, sondern im eigentlichen Sinne die Art, wie wir die Welt sehen.

Jetzt wird’s gefährlich. Für mich. Denn um zu erklären, was ich meine, muss ich zwangsläufig plakativ werden. Ich muss pauschalisieren, obwohl ich weiss, dass genauer betrachtet jeder Einzelne seine eigene Weltanschaung besitzt. Mit dem, was ich sage, werde ich deshalb manche, die diese Zeilen lesen, zum Widerspruch reizen. Sie werden denken: So bin ich doch gar nicht! Damit haben sie vielleicht recht. Teilweise recht. Denn jeder von uns, auch wenn er noch so sehr auf seine Individualität pocht, ist «eher so» oder «eher so». Und jede, die diese Zeilen liest, muss sich selber die Frage stellen: Stimmt es nicht doch? Bin ich nicht doch so?

Die einen von uns sind eher Kopfmenschen, die anderen eher Herzensmenschen. Das ist die grosse weltanschauliche Polarität, die das Schicksal der Menschheit gegenwärtig bestimmt. Natürlich sage ich damit nicht, dass Kopfmenschen kein Herz haben und Herzensmenschen keinen Verstand. Es geht darum, wie man denkt. Ein Kopfmensch denkt mit dem Verstand. Ein Herzensmensch denkt «mit dem Herzen».

Wer mit dem Herzen denkt, glaubt an eine höhere Macht. Manche Herzensmenschen sprechen von Gott, manche von einer geistigen Welt, andere sind davon überzeugt, dass es ein Schicksal gibt. Herzensmenschen müssen nicht «religiös» sein. Sie müssen keine Kirchgänger sein. Ihre Haltung ist, wenn überhaupt, eher spirituell. Oder sie sprechen gar nicht von solchen Dingen. Sie machen sich vielleicht nicht einmal Gedanken dazu. Doch sie leben danach. Sie leben mit dem Respekt vor dem «Höheren», ohne ihm einen Namen zu geben.

Diesen Respekt, diese Demut haben Kopfmenschen nicht. Sie sind vielleicht keine Atheisten und sie haben auch nichts gegen die Kirche, doch eine höhere Macht existiert für sie nicht. Sie sagen höchstens: Man weiss es nicht. Aber eigentlich sind sie sicher, dass nach dem Tod alles aus ist. Jede andere Hypothese wäre nach ihrer Ansicht unwissenschaftlich und unhaltbar. Denn alles, was nicht beweisbar und messbar ist, gibt es nicht. Man weiss es nicht.

Wenn Herzensmenschen an eine höhere, «göttliche» Ordnung glauben, können sie keinen wissenschaftlichen Beweis dafür liefern. Doch ihr Glaube ist eine Gewissheit. Sie sind sich gewiss, dass es so ist. Während sich das Wissen im Kopf befindet, ruht die Gewissheit im Herzen, in der Mitte des Körpers. Die Gewissheit steht über dem Wissen, weil sie nicht nur die Fakten weiss. Herzensmenschen, könnte man sagen, «wissen» mehr. Durch ihre Gewissheit haben sie Zugang zu einer erweiterten Dimension, die für Kopfmenschen nicht erreichbar ist, weil sie nicht daran glauben

Auch Herzensmenschen denken mit dem Verstand. Doch darüber hinaus denken sie mit dem «gesunden Menschenverstand». Der gesunde Menschenverstand ist eine Gewissheit. Er besagt: Es ist einfach so. Kopfmenschen ärgern sich über den gesunden Menschenverstand deshalb so sehr, weil sie ihn nicht verstehen. Er passt nicht in ihre Definition von Verstand. Sie haben nur ihr Wissen, nur ihre Logik. Sie glauben nur, was sie «sehen».

Aber eigentlich sieht man nur, was man glaubt.

Herzensmenschen sind suchende Menschen. Sie wollen sich nicht nur weiterbilden, sie wollen nicht nur ein Instrument, eine Sprache lernen, Philosophie studieren oder Kulturreisen unternehmen. Die meisten Herzensmenschen haben darüber hinaus das schlichte Bedürfnis, mehr zu begreifen über die Welt und über sich selbst. Es drängt sie, nachzudenken über den Sinn des Lebens. Sie wollen bewusster leben. Auch die grössten Realisten unter den Herzensmenschen sind Wahrheitssuchende, weil sie spüren, dass unser Dasein seine innere Ordnung, seine Bestimmung hat. Das muss nicht bedeuten, dass sie Yoga betreiben, meditieren oder esoterische Werke lesen. Viele Herzensmenschen suchen einfach mitten im Leben. Und wenn sie gefunden haben, suchen sie weiter. Trotz ihrer inneren Gewissheit beharren sie nicht darauf, dass sie recht haben. Sie gestehen durchaus, sie könnten sich irren.

Kopfmenschen geben das nicht so leicht zu. Die von den Medien und den «Experten» täglich gelieferte Weltanschauung vermittelt ihnen das schöne Gefühl, zu wissen, was richtig und falsch ist. Sie glauben, sie haben recht, weil ihre Meinung im Einklang mit dem steht, was als wissenschaftlich bewiesen gilt. Das stellen sie nicht in Frage. Was ein «suchender» Mensch ist, verstehen sie nicht. Wenn sie sich kritisch äussern, dann innerhalb der herrschenden Logik. Diese Logik hinterfragen sie nicht, weil sie selber in ihr gefangen sind.

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Der Riss zwischen uns entstand bereits nach den ersten Wochen, im März 2020. Es musste beiden Seiten so vorkommen, als lebten wir in verschiedenen Realitäten. Die Kopfmenschen glaubten von Anfang an, was die Medien berichteten – und die Medien glaubten selber daran. Denn wie die meisten Intellektuellen sind auch Journalisten grösstenteils Kopfmenschen. Sie bringen zwar oft eine Neugier mit, die vom Herzen kommt, doch je länger sie sich nur noch von News ernähren, um so mehr verkümmert ihr Herzensanteil und der «Faktenchecker» übernimmt das Kommando.

Was die Regierung und die Experten verlauteten, übernahmen die Journalisten kritiklos, denn die dargelegten, scheinbar unumstösslichen «Fakten» klangen so überzeugend, dass ihr Verstand nie daran zweifelte. Mit viel Engagement schlossen sie sich dem wissenschaftlichen Feldzug an und schworen das Volk auf die Massnahmen ein.

Und die Menschen gehorchten. Ausserdem hatten sie Angst. Sie lasen die täglichen Horrorberichte und spürten, wie sich in ihrer Bauchgegend eine unbestimmte Beklemmung verbreitete. Selbst die Journalisten bekamen es mit der Angst zu tun – und aus dem Bauch kroch die Angst in den Kopf. Denn Menschen, die nicht auf ihre innere Stimme hören, sind Angstgefühlen heftiger ausgeliefert.

Die Herzensmenschen sahen dieselben Berichte und Bilder - doch bei ihnen stellte sich keine Panik ein. Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihnen: Da stimmt etwas nicht. Schau genauer hin. Denke nach. Konsumiere nicht, ohne selber zu prüfen. Sei offen für andere Informationen. So ging es auch mir persönlich. Als die Behörden in Basel - kurz nachdem die Hysterie ihren Lauf nahm – die traditionelle Fasnacht verboten, wurde ich skeptisch. Das Verbot stand für mich in keinem Verhältnis zur nach wie vor herrschenden Normalität.

Hätte es in meiner Familie, in meinem Bekanntenkreis, in unserem Dorf immer mehr Kranke und sogar Tote gegeben, dann wäre mir klar geworden: Die Lage ist ernst. Aber so war es ja nicht. Also begann ich mich auf die Suche zu machen. Ich fand andere Fakten, andere Zahlen und andere, ebenso wissenschaftliche Stimmen, die von den Medien verschwiegen oder verleumdet wurden.

Vor allem aber stiess ich auf Menschen, die dasselbe dachten wie ich. Menschen, die sich nicht von Statistiken verängstigen lassen, Menschen, die keinen staatlichen Vater brauchen, der ihnen «Sicherheit» gibt – Menschen, die ihre natürliche Vernunft aktivierten und wie ich zu erkennen glaubten, was wirklich geschah. Ich fand Herzensmenschen. Und sie wurden mit jedem Tag zahlreicher.

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Die neue Bewegung für die Rückkehr zur Demokratie vereint die Herzensmenschen in unserem Land zu einer gemeinsamen Kraft, wie es sie vielleicht noch nie gab. Menschen aus städtischen Agglomerationen haben sich ihr ebenso angeschlossen wie Menschen aus Berggebieten; die verschiedensten Berufe sind genauso vertreten wie verschiedene Altersgruppen, Frauen genauso wie Männer. Wobei Frauen möglicherweise die Mehrheit stellen, weil sie wesensbedingt mehr «auf ihr Herz» vertrauen als Männer. Tendenziell sind Frauen auch nach wie vor offener für spirituelle Empfindungen. Sie glauben ganz selbstverständlich an Dinge, die Männer bezweifeln, weil man sie nicht beweisen kann.

Doch der Erfolg der neuen Bewegung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Herzensmenschen eine Minderheit sind - auch bei den Frauen. Ebenso viele andere Frauen sind Kopfmenschen. Der feministische Zeitgeist hat hier ganze Arbeit geleistet. Eine Emanzipation, die noch immer von männlichen Werten, von Spezialistendenken, Leistung und Prestige geprägt ist, nimmt den Frauen ihre innere Stimme. Sie hören sie nicht mehr. Sodass die Expertin im Bundesamt für Gesundheit das Leiden der Kinder unter der Maskenpflicht gar nicht mehr wahrnimmt. Sodass die Tochter ihre eigene Mutter nicht mehr besucht, weil der Bundesrat die Besuche verbietet. Damit will ich der Tochter nicht unterstellen, dass sie «kein Herz» hat. Aber sie hört nicht mehr auf das Klopfen in ihrer Brust. Sie hat vor lauter Wissen und Fakten verlernt, ihren spontanen Impulsen zu folgen. Ohne dies im geringsten zu wollen, handelt sie unmenschlich.

Niemand kommt als Kopfmensch zur Welt. Daran wird sich nie etwas ändern, solange Menschen noch Menschen sind. Kleine Kinder sind Herzensmenschen. Doch kaum werden sie unseren staatlichen Bildungseinrichtungen einverleibt, beginnt die Gehirnwäsche, und je älter sie werden, um so mehr lernen sie, nur noch ihrem Verstand zu vertrauen und nur noch Wissen anzuerkennen - Wissen, dessen Inhalt der Staat bestimmt. So produziert man Kopfmenschen, und nur wenige schaffen es, schon in jungen Jahren gegen den Strom zu schwimmen. Je höher und intellektueller die Bildung, um so leiser wird die Stimme des Herzens.

Die Kopfmenschen sind die schweigende Mehrheit in der Gesellschaft. Sie konsumieren, was ihnen die Medien Tag für Tag auf die Bildschirme liefern, und sie befolgen, was der Staat ihnen aufträgt. Daran halten sie sich, bis neue Direktiven von oben kommen, die sie wiederum widerspruchslos befolgen, selbst wenn sie keinen Sinn darin sehen. Denn sie glauben daran, dass der Staat «neutral» ist. Er ist der Fachmann. Was die Behörden sagen, ist objektiv und notwendig. Ihrer Kompetenz darf man vertrauen, ohne zu denken.

Über der grossen Masse stehen all jene Kopfmenschen, die sich dank ihrer höheren Bildung und ihrer leitenden Positionen am Hebel der Macht befinden. Sie alle haben kraft ihres Amtes materiellen oder mentalen Einfluss auf ihre Mitmenschen. Es sind die höhergestellten Beamten auf allen Stufen bis hinab zum Gemeindeschreiber, es sind die PolitikerInnen und die Regierenden, die obersten Militärs, die Erziehungsverantwortlichen, die Spitaldirektionen, das Gros der Ärzte und Ärztinnen, die staatsbesoldeten Hochschuldozenten und Wissenschaftler, es sind die Chefs der grossen Konzerne, die Parteifunktionäre, die Verbandssekretäre, die Vertreter der Kirchen, die staatsloyalen Kulturschaffenden – und natürlich die Chefredaktionen der Mainstreammedien. In ihrem Gefolge die überwiegende Zahl der ModeratorInnen und JournalistInnen.

Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel.

Sie alle brauchen die Armee der gehorsamen grossen Masse, damit die Gesellschaft in ihrem Sinn funktioniert. Deshalb führen, erziehen und manipulieren sie die schweigende Mehrheit, testen sie, impfen sie, experimentieren mit ihr und missbrauchen sie bei jeder Gelegenheit als Legitimation ihrer Macht und Entscheidungsbefugnis.

Wofür aber brauchen sie ihre Macht? Kopfmenschen tendieren dazu, das gesellschaftliche Leben mit autoritären Konzepten und Theorien lenken zu wollen. Deshalb befürworten sie ausnahmslos einen starken Staat, der in jeden Bereich der Gesellschaft regulierend und moralisierend eingreift. Kopfmenschen haben Angst vor der Eigendynamik des Lebens, weil sie sie nicht verstehen. Mit ihrem Technokratismus wollen sie die Unberechenbarkeit unserer Existenz unter Kontrolle bringen. Sie wollen das Unsystematische systematisieren. Die Individualität der Menschen steht ihnen dabei im Weg, deshalb tun sie alles, um das Individuelle und Eigenverantwortliche zu verstaatlichen. Und Verstaatlichung ist Sozialismus. Deshalb stehen Kopfmenschen eher links.

Sie schränken den Privatverkehr ein und wollen uns alle zu Pendlern machen. Sie reden uns den Wunsch nach dem Eigenheim aus und wollen uns alle zu Mietern machen. Sie reglementieren die freie Wirtschaft zu Tode und wollen aus ihr eine Planwirtschaft machen. Sie erpressen die Ungeimpften und wollen aus uns ein Volk von Geimpften, Gechipten und Gehorchenden machen, damit sie, unbehindert von Widerstand, schalten und walten können. Sie würden am liebsten jede private Regung verstaatlichen wollen. Und begreiflicherweise haben sie ein Interesse, für ihren Einsatz belohnt zu werden. Mit einer wichtigen Rolle in ihrem System. Mit möglichst viel Autorität über uns. Damit sie uns mit sanfter Gewalt zu ihrer Definierung von Glück zwingen können.

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Die schlimmste Eigenschaft, welche die Herzensmenschen jedoch in den Augen der Kopfmenschen haben, ist ihre Liebe zur Schweiz. Herzensmenschen lieben die Besonderheit unseres Landes, sie schätzen seine weltweit einmalige direkte Demokratie und sind mit schweizerischer Zurückhaltung stolz darauf, dass Traditionen wie Freiheit und Selbständigkeit in unserem Land so viel gelten. Innert weniger Monate entwickelte sich die Bewegung gegen die Corona-Massnahmen zu einer patriotischen Kraft. Aus dem Kampf um die Rückgewinnung der Freiheit ist ein Kampf um die Rückgewinnung der Schweiz geworden. Die Treichler mit ihrem ins Mark fahrenden Glockengeläut, die allgegenwärtigen weissen Kreuze auf rotem Grund, die vielen bunten Kantonsfahnen, die jungen Frauen in Trachten und die Wiederentdeckung der Nationalhymne, die historische Kundgebung unter dem Tell-Denkmal: Das alles zeugt von einer unsentimentalen und lebendigen Rückbesinnung auf unsere Wurzeln, wie sie noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Die Demonstrationen haben auch zu einer Vereinigung der ländlichen mit den städtischen Herzensmenschen geführt. Ihnen allen gemeinsam ist nicht nur das positive Verhältnis zur Schweiz, sondern die Liebe zum Land. Herzensmenschen, auch wenn sie mitten in Zürich, Bern oder Basel wohnen, empfinden die ländliche Schweiz nicht als rückständig. Die Bergkantone sind für sie eine Art Garantie, dass die urbane, städtische Schweiz das Land nicht dem oberflächlichen Fortschritt opfert, der in Wirklichkeit gar kein Fortschritt ist. Den Herzensmenschen liegt das Kleinräumige und organisch Gewachsene näher als die Reissbrettplanung der Zukunft. Eine Uniformierung der Welt, die auf Kosten der Eigenart eines Landes geschieht, widerspricht ihrer Grundhaltung.

An der Kundgebung in Altdorf stand auch plötzlich wieder unser Nationalheld im Mittelpunkt des Geschehens. Herzensmenschen haben ein völlig unverkrampftes Verhältnis zu Wilhelm Tell. Sie kümmern sich nicht darum, ob es ihn wirklich gab. Wie die Griechen ihren Odysseus haben, hat die Schweiz ihren Tell. Wilhelm Tell ist unser aller Mythos, unser Symbol für die Verteidigung unserer Freiheit gegen fremde und eigene Vögte. Er war es in der Vergangenheit, und er wird es auch morgen sein, denn wie wir gerade hautnah erleben, muss die Freiheit immer wieder von neuem errungen werden.

Kopfmenschen verstehen das nicht. Sie belächeln den Tell, weil er doch gar nicht wirklich gelebt hat. Sie belächeln ihn auch als Freiheitssymbol, weil doch die heutige Situation mit der Zeit der Habsburger Vögte gar nicht vergleichbar ist. Die Einschränkung unserer demokratischen Rechte sehen Kopfmenschen nicht als Unterdrückung der Freiheit, sondern als eine Notwendigkeit in Zeiten der Pandemie.

Auch die Liebe zur Schweiz verstehen sie nicht. Sie machen sich keine grossen Gedanken darüber, warum sie hier leben und was die Besonderheit der Schweiz ausmacht. Sie leben gern hier, weil dieses Land ihr Zuhause ist, weil es so schön und sein Lebensstandard so angenehm hoch ist. Aber sie stören sich am «Kantönligeist», am Föderalismus, den sie als Hindernis sehen. Es stört sie, dass die Schweiz nicht dynamischer und globalisierter ist, und sie hätten keine Probleme damit, wenn unser Land seine Gesetze, Sitten und Bräuche internationaler gestalten würde.

Für Kopfmenschen ist die Schweiz ein Konstrukt, eine geografische Grösse, ein Zufallsprodukt. Sie wissen nichts von der Seele der Schweiz, weil sie nicht an die Seele glauben. Sie spüren nicht die Ausstrahlung dieser Schweiz, weil die Ausstrahlung sich nicht messen lässt. Und sie wissen nichts von der geistigen Kraft dieses Landes, weil sie nicht wissen, was «Geist» bedeutet.

Sie kennen nur Intelligenz. Sie kennen nur den Verstand. Und weil sie ihr Herz nicht spüren, haben sie keine Brücke zwischen dem Kopf und dem Bauch. Ihre Gefühle sind losgelöst und getrennt vom Verstand, und ihr Verstand bekommt keine Nahrung von den Gefühlen. Kopfmenschen finden nicht ihre Mitte. Sie finden nicht zu sich selbst.

**

Zwischen den Kopf- und den Herzensmenschen, so scheint es, kann es keine Verständigung geben. Unsere geistigen Welten sind zu verschieden. Diskussionsversuche helfen nicht weiter. Appelle prallen ergebnislos ab. Verbale Gewalt führt zu Gegengewalt. Die Geimpften stehen im Krieg mit den Ungeimpften.

Dieser Grundkonflikt lässt sich nicht überwinden, so sehr wir uns dies vielleicht wünschen. Er bestand schon vor Corona, wurde nun offensichtlich und wird sich immer wieder entzünden: an unseren Einstellungen zum Klimawandel, zur Migration, zur EU, zur Genderfrage, zu sämtlichen Themen, welche die Zukunft unseres Landes bestimmen. Und jedesmal wird sich aufs neue zeigen, wo die Schweiz steht, welche der beiden Kräfte sich durchsetzen können: die Verstandes- oder die Herzenskräfte.

Doch vergessen wir nicht: Wir leben zusammen unter dem gleichen Dach. Wir müssen irgendwie miteinander auskommen. Das geht aber nur, wenn wir uns darin einig sind, dass eine Weltanschauung keine Charaktereigenschaft darstellt. Herzensmenschen sind nicht bessere Menschen als Kopfmenschen. Charakterschwäche gibt es auf beiden Seiten, Charakterstärke genauso. Die Grenzen zwischen den Kopf- und den Herzensmenschen sind fliessend. Niemand ist ausschliesslich nur das eine oder das andere. Und jeder von uns kann sich ändern. Jedem von uns ist es jederzeit möglich, neue Einsichten zu gewinnen.

Darauf können wir hoffen: Dass uns die Umstände lehren. Argumente überzeugen im Grunde nur selten. Der überzeugendste Lehrmeister war schon immer das Leben selbst. Und die Sprache des Lebens ist die Sprache des Herzens.

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Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.

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