Die wissenschaftliche Task Force hat es immer noch nicht verdaut, dass der Bundesrat per gestern – eher symbolische – Öffnungen beschlossen hat. Das wurde sichtbar beim neuesten Auftritt vor der Kamera. Der Tenor: Die Schweizer dürfen jetzt wieder ein bisschen mehr – aber sie sollten es nicht tun.
Er ist der ungekrönte König der Modelle und der Szenarien: Martin Ackermann, Oberhaupt der Task Force, die sich vor einem Jahr erfolgreich dem Bundesrat als Beratertruppe angedient hat. Bei der neuesten Informationsrunde des Bundesamts für Gesundheit im Rahmen einer Medienkonferenz durfte auch Ackermann in der Reihe ganz vorne sitzen und seine Meinung zum Besten geben. Es war ein Aufguss dessen, was er schon immer gesagt hat. Aber weil das, was er ankündigt, so selten eintrifft, betont er nun stets, seine Ausführungen seien «keine Prognosen», er erkläre nur mögliche Trends.
Bei ihm heisst das: Nimm das schlimmstmögliche Szenario und multipliziere es mit 10.
Einen Tag nach den vorsichtigen Öffnungsschritten, die kaum jemandem wirklich helfen, führte Ackermann also aus, wie sich die Epidemie in den nächsten Monaten entwickeln könnte. Er unterschied dabei zwei Szenarien. In einem gelingt es der Schweiz, jeden Tag 50'000 Impfdosen zu verabreichen, im anderen sind es 100'000.
Aber, welche Überraschung, so gross ist der Unterschied gar nicht. «In jedem Fall» erwarte die Schweiz «ein steiler Anstieg» an Infektionen, so Martin Ackermann. Natürlich wäre es ganz in seinem Sinn, dass möglichst viel geimpft wird, aber offenbar ändert das nicht einmal etwas an der drohenden Apokalypse.
Und was die Öffnungen angeht: Der Chef der Task Force, die ja eigentlich nur ein beratendes Gremium ist, konnte vor laufender Kamera und flankiert von Spitzenleuten aus der Bundesverwaltung schlecht lautstark zetern darüber. Aber er liess die Schweiz dennoch wissen, was er findet. Durch die Öffnungsschritte könne die Zahl der Infizierten und Hospitalisierten wieder «stark zunehmen». Eine interessante Wortwahl: Mit «könnte» wird etwas abgeschwächt, nur um es mit «stark» wieder aufzuplustern. Jedenfalls müsse man die «Eindämmungsmassnahmen» schnell wieder anpassen, wenn man einen Anstieg bemerke. Sprich: Macht die Terrassen bitte wieder zu, sobald die Temperaturen hoch genug sind, dass man sie überhaupt nutzen kann. Dass die relevanten Zahlen auf Knopfdruck wieder beunruhigend aussehen können, weiss das Land ja mittlerweile.
Worauf beruht die pessimistische Prognose, Verzeihung, es sind ja keine Prognosen, wie kommt Ackermann zu diesem möglichen negativen Trend? Man gehe da auf einen Index zurück, der festhalte, zu wie vielen Ansteckungen es bei früheren Öffnungsschritten gekommen sei. Von der Erklärung der Zukunft ist die Task Force also vorsichtshalber abgerückt, nun schaut man in die Vergangenheit.
Und überhaupt: Dass Herr und Frau Schweizer nun theoretisch mehr dürfen, muss ja nicht heissen, dass sie es auch tun müssen. Er, so Ackermann, empfehle weiterhin, bei Aktivitäten in Innenräumen immer eine Maske zu tragen, also etwa beim Fitness oder beim Singen. Und natürlich lüften, was das Zeug hält. Sprich: Tut so, als hätte es die Lockerungen nie gegeben.
Mehr noch: Auch draussen solle man bitte nicht «länger zusammensein», vor allem nicht bei einem gemeinsamen Essen oder einem Gespräch. Sein Wunsch könnte Wahrheit werden: Angesichts der Temperaturen bleibt einem ja auf der Terrasse derzeit sowieso nichts anderes übrig, als das Bestellte möglichst schnell zu verschlingen.
Der Herr der Task Force rief auch noch dazu auf, mit den Freiheiten «richtig umzugehen». Man solle sich zurückhalten und abwarten, bis möglichst viele Leute geimpft sind. Obwohl das ja, siehe oben, irgendwie auch nicht viel nützt. Mit den Öffnungen sei das Land ein Risiko eingegangen, befand er dann noch, dessen müsse man sich bewusst sein und entsprechend handeln.
Ein interessanter Nebenschauplatz entstand, als ein Journalist so etwas Ähnliches wie eine kritische Frage stellte. Ob das Bundesamt für Gesundheit denn mit diesem Ausblick nicht den Teufel an die Wand male, denn die Ansteckungszahlen seien in den letzten Tagen ja gesunken.
Aber natürlich gibt es auch dann immer eine gute Erklärung, wenn die Zahlen nicht das sagen, was sie sagen sollten. Patrick Mathys vom BAG sprach von «Meldeverzögerungen». Es sei immer so, dass die Zahlen der letzten zurückliegenden Tage nicht der Realität entsprechen und deshalb immer besser aussehen. Denn da habe man einfach noch nicht alle Meldungen erhalten und berücksichtigt, das werde dann entsprechend noch mit Nachmeldungen – und dieses Wort hat er in der Tat verwendet – «aufgefüllt».
Warum man Zahlen publiziert, von denen man weiss, dass sie angeblich nicht stimmen und korrigiert werden müssen, wäre eine gute Anschlussfrage gewesen, nur stellte sie leider keiner.
Aber es spielt auch keine Rolle. Dennüber die ganze Zeitspanne, so der Mann vom BAG, werde man dann dank der Nachmeldungen sowieso wieder eine Zunahme feststellen.
Woran niemand zweifelt.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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