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Zum Ständemehr

Was nicht passt, wird auf den «Müllhaufen» geworfen

Die kleinen Kantone in der Schweiz sind konservativ bis hinterwäldlerisch und von Grund auf Böse und verhindern jede positive Entwicklung. Das jedenfalls finden die Juso und zahlreiche weitere Stimmen nach dem Abstimmungssonntag. Demokratie ist offenbar ein Wunschkonzert.

Stefan Millius am 30. November 2020

Es hat Tradition in unserem Land: Nach einer Abstimmung haben immer alle gewonnen. Die einen tatsächlich und in nackten Zahlen, die anderen moralisch oder aber, weil das System eben einfach falsch ist. Man kann sich kaum daran erinnern, wann letztmals jemand eine Niederlage ohne Wenn und Aber eingeräumt hat.

Auch bei der Konzern-Verantwortungs-Initiative ist das der Fall. Eine hauchdünne Mehrheit der Stimmbevölkerung hat sie angenommen, aber sie ist am Ständemehr gescheitert. Dieses wurde nicht gestern eingeführt, sondern hat eine lange Geschichte. Gekommen ist es damals nicht aus einer Bierlaune heraus, sondern vor dem Hintergrund eines sehr schweizerischen Gedankens: Es soll nicht sein, dass die grossen Kantone und die Ballungszentren der Bevölkerung das Geschick des Landes nach Belieben diktieren. Deshalb leisten wir uns übrigens auch die kleine Kammer, den Ständerat. Auch er sorgt korrigierend dafür, dass Zürich, Bern und Konsorten den Rest des Landes nicht zu Statisten degradieren.

Das finden einige Leute gut, solange es für sie spielt. Tut es das mal nicht, dann gehört das Ständemehr «auf den Müllhaufen der Geschichte», wie Juso-Präsidentin Ronja Jansen befindet. Die Wortwahl ist beachtlich: Sie will es nicht einfach abschaffen, sondern wie einen toxischen Gegenstand entsorgen. Selbst Politologen weisen mit Sorgenfalten auf der Stirn darauf hin, dass das Ständemehr hie und da den Ausschlag gibt. Dabei ist das ja gerade die Idee - wozu haben wir es sonst?

Aus Jansens Stimme - und der einiger anderer - spricht eine Geringschätzung der kleinen Kantone. Diese haben aus ihrer Sicht nicht nur zu viel Macht dank dem Ständemehr, sondern sind eben auch noch tendenziell konservativ. Angesprochen werden vor allem Ost- und Zentralschweiz. Wären wir ein Hort der Linken, wäre das Ständemehr plötzlich ziemlich praktisch. Das ist durchsichtig und hat mit Demokratie nichts zu tun. Man kann über das Ständemehr diskutieren, aber bestimmt nicht einfach auf der Grundlage der eigenen Haltung, die nun eben verloren hat.

Wie der Ausserrhoder Ständerat Andrea Caroni auf 20min.ch ausführt, deckt sich die Meinung einer Mehrheit in 95 Prozent der Fälle mit dem Ständemehr. Es ist also kein Instrument, das ständig dem Volksmehr im Weg steht. Das zeigt, dass das System sorgfältig austariert ist. Und sorgt doch einmal das Ständemehr für die Entscheidung, ist das gut so, egal, ob rechts oder links profitiert. Denn würden die erwähnten Landesteile Mal für Mal vorgeführt von den «Grossen», wäre das langfristig schädlich. Wer würde sich dann noch an die Urne quälen aus der Ostschweiz, wenn ja doch nur passiert, was die Metropolen wollen?

Die Juso-Präsidentin träumt von der urbanen Schweiz, in der man ihren oft wirren Forderungen nur zu gern folgt. Die Schweiz ist aber nun einmal mehr als das: Sie ist Land, sie ist Agglomeration, sie ist Streusiedlungen und sie ist der Banker vom Paradeplatz und der Bauer aus dem Toggenburg. Sie ist das alles, und das muss sich in den Resultaten spiegeln.

Zudem ist die Debatte nicht neu, sie kommt alle paar Jahre aus persönlicher Befindlichkeit heraus auf. 2013 brachte das Ständemehr den sogenannten Familien-Artikel zu Fall, prompt wurde wieder über die kleinen, konservativen Kantone hergezogen. Der damalige Innerrhoder Landammann und heutige Ständerat Daniel Fässler wies damals darauf hin, dass die Schweiz eben kein Nationalstaat, sondern ein Bundesstaat sei und das Ständemehr Ausdruck für die Bedeutung der Kantone innerhalb des Staats seien. Aber wenn man gerade verloren hat an der Urne, interessieren solche übergeordneten Gedanken eben nicht. Es geht nur darum, wer dem eigenen Erfolg vor der Sonne gestanden ist.

Übrigens hat selbst Donald Trump ein ähnliches Problem. Als er 2016 nicht dank der Mehrheit der einzelnen Stimmen, sondern der «Wahlmänner» gewählt wurde, gab es viele kritische Stimmen zum System. Sprich: Je nach Ausgang ist das System völlig in Ordnung oder falsch. Wer so argumentiert, zeigt eine erstaunliche Unreife gegenüber der Demokratie.

Aber gut, das ist zumindest im Fall der Juso nun wirklich nichts Neues.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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