Die St.Galler Innenstadt droht auszubluten. Ein Projekt soll das ändern. Aber sind die Initianten auf dem richtigen Weg? Ein Experte hat den Schlussbericht zu «Zukunft Innenstadt» für «Die Ostschweiz» analysiert. Sein Urteil fällt mehrheitlich positiv aus. Aber einige Fragezeichen bleiben.
Die Stadt St.Gallen will - oder muss - ihre Innenstadt fit für die Zukunft machen. Ein entsprechendes Projekt wurde vor geraumer Zeit ins Leben gerufen. Das vorläufige Ergebnis war ein Schlussbericht, der im April 2018 vorgestellt wurde. Weitere Informationen sind hier zu finden. «Die Ostschweiz» wollte von einem externen Experten wissen, was von den Ergebnissen zu halten ist - und ob sie dazu geeignet sind, der Innenstadt wieder mehr Leben einzuhauchen. Der Volkswirt Raphael Schönbächler von Fahrländer Partner Raumentwicklung im Gespräch.
Raphael Schönbächler, wie fällt Ihr erster Eindruck rund um «Zukunft Innenstadt St.Gallen» aus, was die Vorgehensweise und die ersten Resultate angeht?
Die Vorgehensweise erachte ich als gelungen und zielführend in Bezug auf die Projektziele und -fragestellungen. Zum einen ist es notwendig, sich mit diesen Fragestellungen zu beschäftigen, was man auch an der Tatsache sieht, dass andere Schweizer Grossstädte Projekte mit dem gleichen Thema lanciert haben. Kaum eine zweite Branche – vielleicht mit Ausnahme der Medienbranche – ist einem ähnlich grossen Wandel ausgesetzt wie der Detailhandel. Diverse Einflussfaktoren wirken in zunehmendem Ausmass auf die letztlich vom Einkaufsverhalten der Konsumenten abhängige Branche. Dies führt dazu, dass sämtliche Veränderung auf sozialer, ökonomischer, technologischer oder ökologischer Ebene, welche das Konsumverhalten beeinflussen, auch den Detailhandel tangieren. Insbesondere die unter dem Schlagwort der Digitalisierung behandelte technologische Entwicklung beeinflusst über mehrere Kanäle die Detailhändler. Und da jede Stadt- und speziell Innenstadtentwicklung auch zukünftig eng an die Entwicklung des Detailhandels und auch der Gastronomie gekoppelt sein wird, tun die zuständigen politischen Departemente gut daran, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzten. Verkaufsangebote und -formate prägen und generieren die Zentrenstrukturen unserer Städte. Zum anderen ist meines Erachtens die gewählte Vorgehensweise in St. Gallen mit dem partizipativen Verfahren wichtig.
Weshalb messen Sie diesem Punkt eine grosse Bedeutung bei?
Weil bei diesem Themakomplex mit den Detailhändlern und Ihren Interessensvertretern, der Stadt und nicht zuletzt den Immobilienbesitzern unterschiedliche Anliegen und Interessen bestehen. Die Erarbeitung von Massnahmekatalogen, welche auf Basis einer Bestandesaufnahme und aus verschiedenen Foren heraus entstehen, finde ich ein sehr guter Ansatz, da nur durch die Integration von allen Beteiligten Massnahmen erstehen können, welche auch die Chance auf eine schlussendliche Umsetzung haben.
Hat Sie bei der Durchsicht etwas überrascht, im positiven oder negativen Sinn, was die Fragestellungen oder die angedachten Ideen angeht?
Nein, wie gesagt finde ich die gestellten Fragen richtig und die von den Projektbeteiligten angedachten Ideen und Massnahmen können bei der Analyse dieser Fragestellungen erwartet werden. Damit meine ich aber nicht, dass damit die Resultate per se ungenügend sind. Wie so oft wird hier entscheidend sein, ob die angedachten Ideen auch von den entscheidenden Akteuren am Schluss getragen werden. Speziell bei den regulatorischen Rahmenbedingungen besteht die Gefahr, dass sich etwa bei der Massnahme zu flexiblen Öffnungszeiten andere Interessen durchsetzen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob weitere Schlüsse zu ziehen wären, damit sich die St. Galler Innenstadt langfristig unter den sich wandelnden Einflussfaktoren attraktiv positionieren kann.
Gibt es weitere Punkte im Schlussbericht, die Ihnen aufgefallen sind?
Positiv bewerte ich unter anderem den für Aussenstehende allenfalls etwas überraschende Vorschlag eines City Managers. Gleiches haben wir in einem ähnlichen, durchgeführten Projekt auch vorgeschlagen. Eine zentral geführte Standortvermarktung kann helfen, das Gesamtangebot einer Innenstadt besser auf die sich ändernden Bedürfnisse der Besucher anzurichten und durch Inszenierung dem unter dem Begriff «Unstoring» zusammengefassten Trend Rechnung zu tragen.
Der ganze Prozess ist komplex, es gibt viele Anspruchsgruppen. Ist aus Ihrer Sicht Ist etwas vergessen gegangen, glauben Sie aus der Aussensicht, dass es weitere Handlungs- oder Problemfelder gibt, die hier fehlen?
Aus meiner Sicht wurde sinnvollerweise die Analyse der Nachfrage- und Angebotsseite als Ausgangslage durchgeführt. Hier vermisste ich im Bericht jedoch gewisse Aspekte. Aus dem Bericht geht für mich nicht hervor, wie stark unter Druck der innerstädtische Handel und die Gastronomie in St. Gallen wirklich ist und in welchen Teilgebieten sowie wie sich deren Strukturen schon im Verändern sind. So ist zum Beispiel in der Innenstadt St. Gallen auffällig, dass zwar viele Modegeschäfte vorhanden sind, aber verglichen mit anderen Grossstädten wenige wirkliche Frequenzbringer, welche für ein grösseres Einzugsgebiet zentral sind. Daher kann man meiner Meinung nach nicht schliessen, dass beim Segment Fashion kein Handlungsbedarf mehr ist. Hier kommt es weniger auf die Anzahl Geschäfte an als etwa auf den richtigen Mix von verschiedenen Betriebstypen, welche unterschiedliche Ausstrahlungskraft haben können. Was mir beim Projekt in St.Gallen fehlt, ist auch eine kleinräumliche Betrachtung.
Was ist darunter zu verstehen?
Wir haben bei Fahrländer Partner die Erfahrung gemacht, dass die Bewertung der Mikrolage für eine optimale Positionierung eines Areals oder eines Perimeters am Beginn einer Analyse stehen sollte. Auch im relativ kleinen Perimeter des Projekts weisen nicht alle Lagen eine genügend gute Lagequalität auf, um die Flächen zum Beispiel auf das Fashionsegment auszurichten oder überhaupt für publikumsintensive Nutzung zu positionieren. Etwas kurz gekommen zu sein scheint mir die stadträumliche Untersuchung des Perimeters. Die Qualität des öffentlichen Raums ist mitbestimmend für ein attraktives Einkaufs- und Freizeiterlebnis. Nicht jede Erdgeschosszone oder sämtliche Gebäudebestände in der Innenstadt erfüllen die Voraussetzung für eine ertragsstarke Detailhandels- oder Gastronomienutzung. Hierbei kommt auch wieder die Mikrolagequalität ins Spiel. In Zukunft wird sich gemäss Meinung von Fahrländer Partner der Detailhandel noch stärker auf die besten Lagen konzentrieren. Meiner Meinung nach könnte eine detaillierte Analyse der einzelnen Strassenzüge und Teilgebiete der St. Galler Innenstadt zum Lichte bringen, wo welche publikumsintensive Nutzung Sinn macht und wo besser andere Nutzungen zielführend sind. Stadträumliche Defizite kommen so besser zur Erscheinung. So beobachten wir öfters bei Immobilienentwicklern, dass der Mut für Wohnen im Erdgeschoss fehlt. Ertragsschwache Geschäfte oder Leerstände sind die Folge.
Gibt es besonders innovative Ansätze, neue Ideen in den ersten Konzepten, oder entspricht alles dem Gewohnten“?
Man merkt, dass die Massnahmen von direkt Beteiligten mitgetragen wurden und nicht von fremden Planungsbüros auf dem Bürotisch entworfen sind. Sehr innovative und vielleicht allzu unrealistische Ideen sind nicht dabei. Wohl noch folgen wird eine vertiefte Behandlung von zukunftsträchtigen Verkaufs- und Gastronomieformaten. Die Konsequenzen der Detailhandelstrends und -triebkräfte verlangt unter anderem vom Detailhandel, dass er durch eine stärkere Service-Orientierung zusätzliche Funktionen übernehmen wird wie beispielsweise Kinderbetreuung. Auch massgeschneiderte Concierge- und On-Demand Services werden wichtiger. So können generell die Innenstädte ihre Standortgunst nutzen, um von der steigenden Dienstleistungsorientierung und etwa dem Trend des «Travel Retailing» profitieren zu können. Visionen über mögliche Funktionen von Innenstädten in der Zukunft kann die Stadt auch von anderer Seite herbeiziehen und muss sie nicht von Grund auf neu andenken. Ich denke da zum Beispiel an die von der Stadt Zürich in Auftrag gegebene Studie «Handel im Wandel», wo das ganze Thema szenarienhaft behandelt wurde.
Was dürfte aus Ihrer Erfahrung heraus bei der konkreten Realisierung am meisten Schwierigkeiten bereiten?
Aus Immobilienmarktsicht kann das aufgelistete Ziel, dass die Stadt bei ihren Stadtliegenschaften mit vernünftigen Mietzinsen dazu beitragen soll, die Rahmenbedingungen für Wohnen und Arbeiten zu verbessern, kontraproduktiv sein. Der Vorschlag wird daher rühren, dass sich in der Stadt St. Gallen seit 2014 der negative Binnenwanderungssaldo gegenüber den direkt umliegenden Gemeinden - insbesondere gegenüber Wittenbach, Gaiserwald, Teufen und Speicher - verstärkt hat. Tief gehaltene Mietzinse bei städtischen Liegenschaften können je nach Nachfrage auch das Mietpreisniveau für private Eigentümer reduzieren und daher einen Anreiz bilden, nicht genügend in die Immobilien zu investieren mittels Renovationen oder Ersatzneubauten. Das kann sich negativ auf die Qualitäten des Wohnungsangebots auswirken, wovon wiederum abhängig ist, ob Haushalte weg- oder zuziehen. Die Analyse der Bautätigkeit und der Renovationszahlen zeigt, dass die Investitionen in den Wohnungsbestand in St. Gallen im Städtevergleich zwar nicht hoch, aber auch nicht überdurchschnittlich gering sind. Fehlanreize gilt es dennoch zu verhindern.
Dann sollte man in diesem Bereich aus Ihrer Sicht gar nicht aktiv werden?
Durchaus zielführend können temporär reduzierte Mietpreise bei Erdgeschossflächen für publikumsintensive Nutzungen sein. Allerdings macht das am meisten Sinn bei etwa noch nicht vollständig entwickelten Standorten wie etwa der Europaallee in Zürich oder bei Wohnüberbauungen. In den innerstädtischen Toplagen der Grossstädte sehe ich dieses Vorgehen nicht, mal abgesehen von temporären Nutzungen via pop-up-stores und dem im Verkaufsflächenmarkt ohnehin stattfindenden unterschiedlichen Mietpreisen für etwa Ankermieter und Satellitengeschäfte. Generell ist der Einfluss des Projekts auf eine dynamische Wohn- und Beschäftigungsentwicklung, welche dem Handel zusätzlich Kundschaft bescheren würde, begrenzt. Hier sind wohl andere Faktoren wie Steuerpolitik, überregionale Erreichbarkeit, Verfügbarkeit von Hochqualifizieren und nicht zuletzt das Vorhandensein von attraktiven Wohn- und Geschäftsflächen entscheidend.
St.Gallen möchte vermehrt auch internationale Gäste ansprechen. Was halten Sie davon?
Das ist ein ambitiöses Ziel. Für die Innenstadt wird vielmehr entscheidend sein, die Kundschaft des Einzugsgebiets von St. Gallen optimal zu aktivieren. Sprich, dass die Bevölkerung im Einzugsgebiet möglichst viel ihres Konsumbudgets in der Stadt ausgiebt statt in ihren Wohngemeinden, in anderen Schweizer Zentren, im Ausland oder online.
Gilt das für St.Gallen oder generell?
Für den Schweizer Detailhandel im Ganzen wird die Entwicklung in den nächsten Jahren nicht nur vom Bevölkerungswachstum – das für die Stadt St. Gallen zwar positiv, aber im regionalen Vergleich leicht unterdurchschnittlich sein dürfte – vom Tourismusaufkommen und der Einkommensentwicklung abhängen, sondern auch wesentlich von der zukünftigen Spar- bzw. Konsumneigung. In den Medien werden in der Regel der Einkaufstourismus, welcher bereits zurückgegangen ist und ohne erneute Aufwertung des Schweizer Frankens sich weiter reduzieren wird, und vom Online-Handel als Erklärung für die trotz hohem Bevölkerungswachstum nicht vorhanden Umsatzsteigerung genannt. Vergessen geht, dass die in der Schweiz in den letzten Jahren gestiegene Sparquote einen wesentlichen Einfluss auf das fehlende Umsatzwachstum hatte. Alleine die Erhöhung der Sparquote zwischen 2009/2011 und 2015 führte zu einer Reduktion des Detailhandelspotenzials von jährlich rund 3 Mrd. CHF.
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Zur Person
Raphael Schönbächler ist Volkswirt und Immobilienconsultant bei Fahrländer Partner Raumentwicklung. Er hat unter anderem für eine Schweizer Grossstadt an einer strategischen Planung des Detailhandels im Innenstadt-Perimeter mitgewirkt (noch nicht veröffentlicht), wo die selben Fragestellungen wie beim Projekt «Zukunft St.Gallen Innenstadt» behandelt wurden. Raphael Schönbächler hat darüber hinaus für zahlreiche Standort- und Marktanalysen oder Gutachten Verkaufs- und Gastronomienutzungen bewertet beziehungsweise Nutzungskonzeptionen sowie Potentialanalysen und Angebotsplanungen erarbeitet. Den Wohnungs- und Geschäftsflächenmarkt der Stadt St. Gallen kennt er aus durchgeführten Analysen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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