Rundliche Menschen haben sich nicht im Griff. Sie essen zu viel und sterben früh. Ist das wirklich so? Nachgefragt bei der Ernährungsberatung im Ostschweizer Adipositaszentrum am Kantonsspital St. Gallen.
Galten füllige Menschen früher als gemütliche Zeitgenossen und gute Futterverwerter, stehen sie heute vielerorts für Disziplinlosigkeit und Kontrollverlust. Dabei verkörpern beleibte Menschen in bestimmten Kulturen Wohlstand und Schönheit, wie bei den Südsee-Insulanern und mancherorts in Indien.
Es liegt in den Genen
Etwas neidisch schielt man zu den Menschen, die essen können, was sie wollen ohne zuzunehmen. «Der individuellen Veranlagung gemäss verbrennen die einen überschüssige Energie schneller als andere», sagt Ruth Sollberger Miller, Ernährungsberaterin im Adipositaszentrum am Kantonsspital St. Gallen. «Auch das Alter, Geschlecht, die Grösse und die Muskelmasse beeinflussen den Energiebedarf und somit das Körpergewicht und Körperfülle.» Essentiell sei, die Ernährung und Bewegung den Lebensumständen, dem Lebensstil und Alter anzupassen.
Verschiedene Erhebungen belegen, dass das Körpergewicht eines Menschen an seine Disposition geknüpft ist. Wissenschaftler haben Gene identifiziert, die Übergewicht begünstigen. So belegen Studien, die mit adoptierten Kindern durchgeführt worden sind, dass es keinen wesentlichen Einfluss auf deren Gewicht hatte, ob diese in ernährungsbewussten Familien lebten oder bei Fast-Food-Essern aufwuchsen. Die Kinder waren dann pummelig, wenn auch ihre leiblichen Eltern zur Fettleibigkeit neigten. Wer also mit einer Veranlagung zur Fülle geboren worden ist, muss zeitlebens auf sein Gewicht achten.
«Die meisten unterschätzen den Energiegehalt von Lebensmitteln und überschätzen den Energieverbrauch von Bewegung und Sport», weiss Ruth Sollberger Miller aus Erfahrung. Die Folge: Hüftgold, Doppelkinn und Bauchansatz. «Auch ist unser Organismus mit dem ständig verfügbaren Essen und der energiedichten Nahrung schlichtweg überfordert.»
Wer sein Gewicht halten will oder abnehmen möchte, muss die Nahrungszufuhr also dem individuellen Bedarf anpassen. «Eine gute Orientierung über gesunde Ernährung bietet die Lebensmittelpyramide und die Ernährungsinformationen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung», ergänzt die Ernährungsberaterin. «Auch ausreichend Bewegung im Alltag, typgemässe Sportarten, genügend Schlaf und Erholung gehören zu einem ausgewogenen Lebensstil und unterstützen ein gesundes Körpergewicht.»
Heimtückischer Jo-Jo-Effekt
Besser ist aber, gar nicht erst dick zu werden. Denn wer abnehmen muss, wird erleben, dass der Körper immer wieder zum Ausgangsgewicht zurück will. Diät-Veteranen dürften mit dem heimtückischen Phänomen des Jo-Jo-Effekts bestens vertraut sein. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass das Auf und Ab der Kilos meist nicht nur das Körpergewicht weiter steigen lässt, sondern auch der Gesundheit schadet.
So hat Steven Blair, Sportmediziner am Cooper-Institut im US-amerikanischen Dallas, vor einigen Jahren in einer Langzeitstudie nachgewiesen, dass sich das Risiko übergewichtiger Männer an einem Herzinfarkt zu sterben verdoppelt, wenn ihr Gewicht mehrmals um über fünf Prozent schwankt. Bei einem 90 Kilogramm schweren Mann entspricht dies einer Zu- oder Abnahme von knapp fünf Kilogramm. Eine Studie des deutschen Instituts für Ernährungsforschung hält sogar fest, dass Menschen mit stark variierendem Körpergewicht häufiger an Bluthochdruck litten als solche, die ihr Gewicht hielten oder lediglich zunahmen.
Ernährungsexperten wie Ruth Sollberger Miller raten insbesondere bei einseitigen Diäten zur Vorsicht, da diese den Jojo-Effekt stark begünstigen. «Da während einer Diät oft auch die Muskelmasse abnimmt, sinkt der Grundumsatz des Körpers, was den Organismus ökonomischer mit der zugeführten Nahrung umgehen lässt. Folglich wird es immer schwieriger, Gewicht zu verlieren.»
Früh aufklären
Die richtige Mischung aus Verzicht und Genuss zu finden, ist nicht einfach. Und kaum jemand, der auf sein Gewicht achten muss oder will, wird beim ersten Anlauf seine Essgewohnheiten erfolgreich umstellen können. «Gewohnheiten sind oft schwierig zu ändern, aber für eine langfristige Gewichtsabnahme und spätere Gewichtsstabilisation ist es am besten, die Ernährungsgewohnheiten so umzustellen, dass sie langfristig durchführbar sind. Ob eine Gewichtsreduktion aus gesundheitlichen Gründen angezeigt ist, sollte mit dem Hausarzt angeschaut werden», betont Ruth Sollberger Miller.
Denn bei starkem Übergewicht drohen Folgekrankheiten wie Gelenkarthrose, Bluthochdruck oder Diabetes. «Da sollte man sich unbedingt fachliche Unterstützung beim behandelnden Arzt oder einer qualifizierten Ernährungsberaterin holen.» Bereits fünf Prozent Gewichtsreduktion bedeuten eine gesundheitliche Verbesserung.
Die Zahl der übergewichtigen Erwachsenen und Kinder in der Schweiz ist gemäss Bundesamt für Gesundheit in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Rund 41 Prozent der Erwachsenen sind zu schwer, davon 10 Prozent adipös. Und bereits jedes fünfte Kind wiegt zu viel oder ist fettleibig.
Ruth Sollberger Miller empfiehlt deshalb schon an Schulen einen gesunden Lebensstil und eine ebensolche Ernährung zu vermitteln. «Zusätzlich können Arbeitgeber und Gemeinden Anreize für Bewegung im Alltag und Sport schaffen.» Und: die Nahrungsmittelindustrie könnte einen Beitrag mit weniger Zucker und Fett in Fertiggerichten, Müesli und Getränken leisten. Doch letztlich gilt: «Wer sich vernünftig ernährt, regelmässig bewegt und genug schläft, kann ein paar wenigen Kilos mehr auf den Rippen relativ entspannt begegnen.»
So hält man das Gewicht
• Gelegentlich spazieren gehen, anstatt vor dem TV sitzen.
• Früchte statt Süssigkeiten naschen.
• Früh zu Bett gehen. Schlafen macht schlank.
• Sich gelegentlich ein üppiges Essen ohne schlechtes Gewissen gönnen.
• Ungesüsste, nicht-alkoholische Getränke trinken. Etwa zwei Liter täglich.
• Statt raffinierte Lebensmittel vermehrt Vollkornprodukte essen.
• Einmal pro Woche Fisch essen.
• Schwimmen entspannt, trainiert und festigt den Körper.
• Langsam essen. Das fördert Genuss und Bekömmlichkeit.
• Zwischen den Mahlzeiten mindestens fünf Stunden Pause machen.
• Zwischendurch vegetarische Tage einlegen.
• Velofahren ist gut für Körper, Kreislauf und Seele.
• Bevorzugt saisonale Produkte essen.
• Nicht täglich Alkohol trinken.
Sterben Übergewichtige früher?
Die amerikanische Epidemiologin Katherine Flegal beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Übergewicht. Kürzlich verglichen sie und ihr Team verschiedene Erhebungen und werten rund 100 Studien aus, die einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Lebenserwartung untersucht hatten. Dabei kamen Daten von 2,88 Millionen Menschen aus aller Welt zusammen. Die Forschenden fanden Erstaunliches heraus: Übergewichtige Menschen sterben nicht früher, sie leben sogar länger. Menschen mit einem Body-Mass-Index*, kurz BMI, zwischen 25 und 30, also leicht Übergewichtige, haben ein bis zu sechs Prozent tieferes Risiko, vorzeitig zu sterben, als Normalgewichtige. Sogar bei den leicht Fettleibigen mit einem BMI zwischen 30 und 35 vermindert sich dieses Risiko um fünf Prozent. Das könnte daran liegen, dass überflüssiges Fett im Krankheitsfall eine Energiereserve sein kann. Erst bei stark Fettleibigen, deren BMI über 35 lag, verringerte sich die Lebenserwartung markant.
*Der Body-Mass-Index zeigt das Verhältnis zwischen dem individuellen Körpergewicht und der Körpergrösse auf.
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