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Gastbeitrag

Wenn die Ikonen fallen

Mick Jagger von den «Rolling Stones» hat ein Lied über den Lockdown geschrieben. Doch ein Protestsong ist es nicht.

Nicolas Lindt am 25. April 2021

Zuerst freute ich mich.

Mick Jagger, die Rocklegende der Rolling Stones, den ich seit meiner Jugend verehre, weil er so viele unvergessliche Songs schrieb und so einzigartig gut singen kann - Jagger komponierte ein temporeiches, unerhört rockiges Stück über den Lockdown, das er zusammen mit einem jüngeren Musiker aufnahm und als Video soeben veröffentlicht hat. In dem Lied «Eazy Sleazy» beschreibt er mit sarkastischen Worten, wie der Coronavirus die Welt in seine Gewalt brachte, wie das Leben überall stillstand, wie die Menschen zu Hause eingesperrt waren und nichts mit sich anfangen konnten.

Dann wird der Rolling Stones-Sänger politisch und singt:

Shooting the vaccine

Bill Gates is in my bloodstream

It's mind control

The earth is flat and cold

It's never warming up

And there's aliens in the deep state

An dieser Stelle hätte ich hellhörig werden müssen. Aber ich war zu sehr erfreut von Jaggers Kampfansage an das System. Und schon folgte die letzte Strophe:

Now we're out of these prison walls

But it's easy

Everything's gonna be really freaky

Alright on the night

We're all headed back to paradise

Yeah easy, believe me

It'll be a memory you're trying to forget

Wir sind ausgebrochen aus den Gefängnismauern, sang Mick - und war nicht auch dieser Satz eine Kritik an der herrschenden Corona-Politik, die aus der Welt ein Gefängnis machte? Grossartig, fand ich, wie der wohl grösste noch lebende Rockstar Stellung bezieht und den Mächtigen dieser Welt die Stirn bietet.

Nachdem ich mir das Lied angehört hatte, interessierte mich die Meinung der Mainstreammedien zu Jaggers Message. Sie werden ihn schlechtreden und verketzern, dachte ich, wie sie es mit allen corona-kritischen Stimmen tun – wie sie es auch mit Eric Clapton und Van Morrison getan haben, die zusammen den Song «Stand and deliver» herausbrachten. Obwohl auch Clapton und Morrison in der Rockmusik Unsterblichkeitsstatus besitzen, ernteten sie für ihre Stellungnahme gegen die Lockdownpolitik und ihren Aufruf zum Widerstand nichts als Spott und Verachtung.

Die beiden blieben die einzigen grossen Namen, die genug Frechheit besassen, gegen die Riesenwelle der Angstverbreitung anzuschwimmen. Nun schliesst sich ihnen kein Geringerer als Mick Jagger an. Auch er, so scheint es, will sich das freie Atmen nicht mehr verbieten lassen.

Doch zu meinem Erstaunen wird Jagger nicht an den Pranger gestellt. Die Reaktionen der Medien sind wohlwollend bis begeistert. «Ein Lied unserer Zeit» heisst es da, «vor Energie geradezu berstend». Oder: «Jagger sinniert über das Leben - mit Augenzwinkern und satirischer Botschaft». Die Medien zollen dem Lockdown-Song den Tribut, den sie dem geadelten Rolling Stones-Sänger schon immer entrichtet haben. Und sie alle zitieren ein Interview mit Mick Jagger im Rolling Stone-Magazin, das denselben Namen nicht zufällig trägt.

Also las ich das Interview. Und stellte mit Ernüchterung fest: Mein Idol aus der Teenagerzeit hat mich an der Nase herumgeführt. «Eazy Sleazy» ist kein Protestsong.

Jagger bekennt, dass er schon zweimal geimpft worden ist, und er sagt es, als wäre es selbstverständlich. Er findet die Impfung sinnvoll. Er vergleicht ihren Nutzen mit der Notwendigkeit der Polio-Impfung zur Zeit seiner Kindheit – als ob Corona und Kinderlähmung dasselbe wären. Und wenn er provokativ davon singt, dass er sich die ersehnte Impfung setzt, dass Bill Gates seine Adern durchfliesst, dass Gedankenkontrolle herrscht, dass er in einem fremdgesteuerten Staat lebt, auf einer Erde, die flach und kalt ist - dann will er sich damit über Verschwörungstheoretiker lustig machen. In seinen eigenen Worten: «poking fun at conspiracy theorists».

Er habe mehrere Freunde und Verwandte, erzählt Mick Jagger im Interview, «die gehen auf all diese Dinge ein, die sind einfach irrational». Mit ihnen darüber zu reden, sei sinnlos. «Sie kapieren es nicht. Sie haben, woran sie glauben, und daran glauben sie. Und egal, was man sagt, sie werden weiterhin daran glauben. Rationales Denken funktioniert hier nicht.»

So einfach ist das. Dennoch bezweifle ich, dass es sich bei Jaggers kritischen Verwandten und Freunden ausnahmslos um Fanatiker und Sektierer handelt.

Sie haben wohl einfach nur – wie so viele von uns – eine andere Haltung. Sie vertrauen nicht blind den Experten des Staates. Sie hinterfragen, sie denken nach. Sie lesen, was kritische Wissenschafter und Ärzte sagen. Sie erweitern ihren Horizont. Doch wie urteilt Mick Jagger über seine andersdenkenden Freunde? «Sie kapieren es nicht.» Rationales Denken funktioniere bei ihnen nicht.

Was für eine Anmassung. Ich würde nie von Mick Jagger behaupten, dass er es «nicht kapiert», obwohl auch ich eine andere Einstellung habe als er. Ich würde höchstens sagen, dass ich es anders sehe. Man könnte zu Jaggers Verteidigung argumentieren, dass sein Denken mit 77 nicht mehr ganz so beweglich wie früher ist. Doch seine physische Vitalität und die starken, bildgewaltigen Strophen im Text seines Liedes lassen keinen Zweifel daran, dass Mick Jagger seiner Sinne nach wie vor mächtig ist. Man muss ihn ernst nehmen. Er weiss, was er singt. Doch er gehört zu den Menschen, die offenbar sehr selbstgerecht durch ihr Leben gehen. Sie wollen sich nicht auseinandersetzen. Sie suchen nicht nach der Wahrheit. Sie konsumieren bloss die Wahrheit der Medien. Was der Sänger von seinen Freunden hält, trifft auf ihn selbst zu: Egal, was man sagt, er wird weiterhin daran glauben. Rationales Denken funktioniert bei ihm nicht.

Keine Frage: Den Song, den er gemacht hat, finde ich trotzdem gut. «Eazy sleazy» strahlt wiedererwachende Lebenslust aus – und genau das war die Absicht Mick Jaggers: «Es ist ein Lied über das Herauskommen aus dem Lockdown», erklärt er, «mit etwas dringend benötigtem Optimismus.» Diese Zuversicht brauchen wir alle zurzeit. Wir brauchen die Wiedereröffnung der Restaurants. Wir lechzen nach der Wiedereröffnung des Lebens.

Das ist die gute Botschaft, die uns Mick Jagger vermittelt. Aber die schlechte Botschaft liefert er im gleichen Atemzug mit, indem er Menschen wie mir die Fähigkeit zum vernünftigen Denken abspricht. Und damit ist für mich klar, dass mir nichts anderes bleibt, als vom Idol meiner Jugend Abschied zu nehmen.

Er und die «Rolling Stones» haben mir mit ihrer Musik so viele wunderbare Momente geschenkt, dass ich ihm dafür ewig dankbar bin. Doch nun liegt das Denkmal angeschlagen am Boden. Die Ikone hat sich entzaubert. Hinter der Rocklegende Mick Jagger tritt ein älterer Mann hervor, der – ob gewollt oder ungewollt – auf der Seite der Mächtigen steht, nichts Neues wissen, nichts Neues denken will, sondern es sich in seiner Weltanschauung bequem gemacht hat wie auf einem sanften Ruhekissen.

Mick Jagger ist nicht meine erste, sondern nur die jüngste Enttäuschung. Noch nie zuvor musste ich so manche Persönlichkeit, die mir etwas bedeutet hatte, vom Sockel reissen wie in den letzten zwölf Monaten. Musiker, Schauspielerinnen, Autoren, Moderatoren, Comedians - so viele von ihnen haben durch ihre Äusserungen zu erkennen gegeben, dass sie die gleiche Haltung haben wie die drei Affen und wie Mick Jagger: die gleichen Scheuklappen, die gleiche Expertengläubigkeit, die gleiche selbstzufriedene Pose gegenüber all denen, die anders denken.

Unzählige weitere Personen des öffentlichen Lebens äussern sich überhaupt nicht. Stattdessen bekennen sie Farbe auf ihre Weise – indem sie feige oder gleichgültig schweigen.

Ich muss umdenken lernen. Persönlichkeiten, die mir etwas bedeutet haben, bedeuten mir nichts mehr. Menschen dagegen, die ich bisher nicht wahrnahm, treten an ihre Stelle. Es sind besondere Menschen, Menschen mit Mut, Charisma und Tiefsinn, aber ich werde mich hüten, sie auf den Sockel zu stellen. Ich stelle niemanden mehr auf den Sockel. Die Zeit der Ikonen ist möglicherweise vorbei. Mick Jagger bleibt für mich immer ein grosser Sänger und Musiker. Doch darum geht es jetzt nicht. Ich messe ihn daran, wie er als Bürger denkt. Ich messe ihn daran, wie er als Mensch denkt.

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Autor/in
Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. Neben dem Schreiben gestaltet er freie Trauungen und Abdankungen. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Wald und Segnas.

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