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Indiens imaginäre Klimawandel-Tote

Wenn Journalisten voneinander abschreiben, kommt's selten gut. Jüngstes Beispiel: Die Publikationen aus dem Hause Tamedia

Kürzlich brachten sie einen Artikel des Südostasien-Korrespondenten ihres deutschen Kooperationspartners «Süddeutsche Zeitung» zur aktuellen Hitzewelle in Indien. Dieser ist zwar in Bangkok stationiert und versteht von Indien etwa ähnlich viel als ein Tessiner von Hamburg.

Thomas Baumann am 02. Juli 2023

Also schrieb er: "Laut einem Bericht der medizinischen Fachzeitschrift "The Lancet" aus dem vergangenen Jahr ist die Zahl der hitzebedingten Todesfälle in Indien zwischen den Untersuchungszeiträumen 2000 bis 2004 sowie 2017 bis 2022 um 55 Prozent angestiegen. Und es besteht nach wissenschaftlicher Einschätzung kein Zweifel daran, dass diese Steigerungen auf die Erderhitzung zurückzuführen sind."

Journalisten und Zahlen, das ist ein Kapitel für sich. Das beginnt schon beim Zitieren: Der Untersuchungszeitraum des "Lancet"-Artikels war 2017-2021, nicht 2017-2022. Eigentlich logisch: Die Studie ist letztes Jahr erschienen - da können die Zahlen des letzten Jahres noch gar nicht darin enthalten sein.

"The Lancet" schrieb von einem Anstieg der Hitzetoten in Indien von 55 Prozent zwischen den beiden Untersuchungszeiträumen. Genauer gesagt: Bei den über 65-Jährigen soll die Zahl der hitzebedingten Todesfälle von 20'000 auf 31'000 gestiegen sein.

Wenn in Italien plötzlich doppelt so viel Pasta verzehrt wird als vorher, dann könnte das daran liegen, dass jeder Italiener viel mehr davon isst - oder dass sich die Bevölkerung verdoppelt hat.

Dasselbe bei den Todesfällen in Indien: Wenn mehr Inder sterben, dann liegt das entweder daran, dass Inder kränker sind als früher - oder dass es mehr Inder gibt, die sterben können und irgendwann zwangsläufig auch sterben müssen.

Zwischen 2000-2004 und 2017-2021 stieg die Gesamtbevölkerung Indiens gemäss Daten der Weltbank von 1,1 auf 1,4 Milliarden Menschen oder um rund 26 Prozent - die Zahl der über 65-Jährigen gar um 76 Prozent von 50 auf rund 90 Millionen.

Allerdings darf man daraus nicht unbesehen den Schluss ziehen, dass infolgedessen auch 76 Prozent mehr Senioren versterben. Schliesslich gibt es in Indien noch viel Aufwärtspotential bei der medizinischen Versorgung - ein Potential, das durchaus auch genutzt wird. Je nach Quelle konnte die Sterbewahrscheinlichkeit bei erwachsenen Personen zwischen den beiden betrachteten Zeiträumen um 15-20 Prozent gesenkt werden. (Was ein weiterer Beweis dafür ist, dass die Welt kontinuierlich ein besserer und nicht etwa ein schlechterer Ort wird, wie uns manche Medien weiszumachen versuchen.)

Die Bevölkerungszahl - gerade bei den über 65-Jährigen - ist aber dennoch deutlich stärker gestiegen als die Sterbewahrscheinlichkeit gesunken ist. Die beiden Effekte kombiniert, kann man davon ausgehen, dass im Zeitraum 2017-2021 rund 40-50 Prozent mehr Inder im Alter von über 65 Jahren gestorben sind als 2000-2004.

(Man muss die Zahlen tatsächlich schätzen, weil die Todesfälle statistisch nicht systematisch erfasst werden.)

An irgendetwas müssen letztlich alle Menschen sterben. Wenn trotz besserer Gesundheitsversorgung 50 Prozent mehr Inder im Alter von über 65 Jahren sterben - ganz einfach, weil es viel mehr ältere Inder gibt - dann vermag es nicht wirklich zu überraschen, dass auch eine ähnliche Zahl mehr an hitzebedingten Folgeschäden stirbt als früher.

Es soll keinesfalls bestritten werden, dass Menschen an der Hitze sterben. In der Zeit vor dem Einsetzen des Monsuns wurde es in Nordindien schon vor zwanzig und mehr Jahren jeweils 45-50 Grad heiss. (Der Schreibende spricht aus eigener Erfahrung.)

Die Behauptung der Medien war aber nicht, dass die Hitze Todesopfer fordert (was unbestritten ist), sondern zusätzlich auch die Klimaerwärmung. Wenn dieser Effekt tatsächlich existieren sollte, dann genügt es nicht, wenn die Zahl der hitzebedingten Todesfälle bloss im Gleichschritt mit allen Todesursachen ansteigt (in diesem Fall um etwa fünfzig Prozent) - sondern ihr Anstieg müsste signifikant über demjenigen anderer Todesursachen liegen. Ist dies nicht der Fall - und hier ist es nicht der Fall - dann gibt es keinerlei statistischen Beleg für einen Anstieg der Todesfälle infolge der Klimaerwärmung.

Übrigens: Auch die Zahl der Todesfälle durch Schlangenbisse hat in demselben Zeitraum in Indien zugenommen. Die Ursache ist natürlich dieselbe: Gibt es mehr Menschen, werden auch mehr Menschen von Schlangen gebissen. Dennoch spricht hier niemand von einer "Schlangenpest". Selbst wenn in Indien nach wie vor deutlich mehr Menschen an Schlangenbissen sterben als an der Hitze: Das Risiko ein Inders, vor seinem siebzigsten Geburtstag an einen Schlangenbiss zu sterben, liegt bei rund 1:250.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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