Soll ich heute ein bisschen Kultur? Oder eher das mit den Sozialversicherungen? Meteorologie wäre da ja auch noch. Ach nein, derzeit gehts ja ausschliesslich um Corona. Das ist die erschreckende Realität eines «Gesundheitsministers» in der Schweiz.
Deutschland hat einen Gesundheitsminister. Er heisst Jens Spahn, ist bald 41 Jahre alt und damit das Küken in der Regierung Merkel, und man muss ihn nicht besonders mögen. Spahn versucht derzeit verzweifelt, die durchschnittliche Lebenserwartung des ihm anvertrauten geliebten Volkes auf mindestens dreistellig raufzudrücken, und er würde dafür alles tun, Beschneidung sämtlicher Grundrechte inklusive.
Aber eines muss man Jens Spahn lassen: Er ist mit Leib und Seele Gesundheitsminister. Und das deshalb, weil Deutschland wirklich einen Gesundheitsminister hat. Er kümmert sich um die Gesundheitsversorgung, die Pflege, die Prävention, die Krankenversicherung. Für alles, was nichts mit Gesundheit zu tun hat, ist eines der 14 anderen Kabinettsmitglieder zuständig. Spahn geht das nichts an.
Soweit zu Deutschland. Und nun zur Schweiz.
Wenn Bundesrat Alain Berset seit Monaten in so gut wie jedem Artikel, auch bei uns, als «Gesundheitsminister» bezeichnet wird, ist das eigentlich ein Kunstgriff. Berset ist Vorsteher des Departement des Innern (EDI). Man leistet sich in der Schweiz keinen eigenen Bundesrat nur für Gesundheit. Das macht im Grunde Sinn, es ist schön, dass die Regierung schmal gehalten ist. Es reicht, wenn die Bundesverwaltung aus allen Nähten platzt. Allein das EDI umfasst knapp 2500 Vollzeitstellen.
Berset und seine Leute kümmern sich also nicht nur darum, dass wir alle fit und gesund bleiben. Sie tun weit mehr. Das alles liegt in der Verantwortung des Eidgenössischen Departements des Innern:
Die Kultur in der Schweiz
Die Gleichstellung von Mann und Frau
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesesen
Das Bundesamt für Statistik
Das Bundesamt für Sozialversicherungen
Und dann noch einige Dinge wie das Schweizerische Nationalmuseum, Pro Helvetia, die Schweizerische Nationalbibliothek, das Schweizerische Bundesarchiv und - die Königsdisziplin - das Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie MeteoSchweiz.
Der «Gesundheitsminister» der Schweiz schaut also, dass die Verwaltungssprache richtig schön «gendert», dass unser kulturelles Leben floriert, dass niemand Schindluder bei den Sozialversicherungen treibt, dass wir in Restaurants nicht in sechs Monate alte Schnitzel beissen, dass keiner seine Kuh schlägt und dass immer die Sonne scheint. Ganz schön viel für einen Mann.
In der Praxis öffnet die Konstellation Türen für so manche absurde Situation. In derselben Ausgabe einer Zeitung könnte rein theoretisch Gesundheitsminister Alain Berset sagen, warum Kultur derzeit absolut nicht stattfinden darf in unserem Land, während drei Seiten weiter Kulturminister Alain Berset sagen würde, wie tragisch die Situation für die Kulturbetriebe und Kulturschaffenden ist. Vier Seiten weiter könnte Alain Berset als Verantwortlicher für die Sozialversicherungen vorrechnen, wie dramatisch sich Corona auf diesen Bereich auswirkt. Nur als Zuständiger für Meteo Schweiz bleibt er bei Corona vermutlich eher aussen vor.
Gegen aussen müssen Gesundheitsminister Berset und Kulturminister Berset und Sozialversicherungsminister Berset natürlich aus einem Mund sprechen. Wie das Kollegium Bundesrat sowieso. Entscheidend ist aber, welchen Hut jemand trägt, bevor Entscheidungen gefallen sind. Dann, wenn die Schwerpunkte gesetzt und Details ausgejasst werden. Berset hat sich diesbezüglich längst entschieden. Er ist im Selbstverständnis längst nur noch Gesundheitsminister. Obwohl er, wenn man seine früheren Aktivitäten und seine privaten Vorlieben betrachtet, der Kultur viel näher steht.
Er selbst würde das sicher damit begründen, dass es derzeit um die Erhaltung der Volksgesundheit geht und alles andere leider hinten anstehen muss, was sich ja auch in seiner Politik spiegelt.
Aber für die Kultur in der Schweiz dürfte es doch interessant sein zu sehen, wie sie der oberste «Kultürler» der Schweiz fallen lässt wie eine heisse Kartoffel, sobald sich etwas anderes in den Vordergrund drängt.
Während in Deutschland 15 Regierungsmitglieder jeder für seine Interessen kämpft, vereinen unsere wackeren Sieben in ihren Departementen ganz unterschiedliche Anspruchsgruppen und enttäuschen zwangsläufig munter immer mal wieder eine davon.
Und im Moment werden eigentlich alle enttäuscht, die nicht der Ansicht sind, die Bekämpfung eines Virus, die in dieser Absolutheit ohnehin eine Illusion ist, dürfe zum Stillstand in allen anderen Lebensbereichen führen.
Man muss natürlich nüchtern feststellen, dass es wohl nichts ändern würde, wenn wir einen echten Gesundheitsminister hätten und die weiteren Aufgaben bei einem anderen lägen. Das sieht man am Beispiel Deutschland. Im übertragenen Sinn sitzen dort vermutlich alle anderen Minister geknebelt am Kabinettstisch, während Merkel und Spahn sagen, wie man ab nächster Woche Wirtschaft und Freiheit noch ein bisschen mehr knechten könnte. Die Situation hat offenbar jeden Ehrgeiz aus den Regierungsmitgliedern ausgetrieben. Ein anderes Organigramm würde bei uns daran gar nichts ändern.
Aber es gibt dennoch einen markanten Unterschied: Die Glaubwürdigkeit. Einer wie Jens Spahn kann sich rund um die Uhr allein um Gesundheitsfragen kümmern, und auch wenn das bedauerlicherweise zu keiner vernünftigen Politik führt, muss man konstatieren: Er macht den einzigen ihm zugewiesenen Job, und er hat gar nicht die Aufgabe, darüber hinaus zu denken. Bei Alain Berset hingegen ist die Gesundheit einer von vielen Spielplätzen. Wie soll man ihm abnehmen, dass er im Jahr 2020 quasi über Nacht zum superkompetenten Gesundheitspolitiker wurde, während er in den Jahren davor viel lieber Vernissagen eröffnet hat?
Einige werden einwenden, Berset müsse ja gar kein Gesundheitsspezialist sein, dafür hat er seine Heerscharen von Beratern und Sachverständigen. Allein beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) arbeiten 600 Leute, und weil das nicht reicht, stampft man eine 70-köpfige Task Force aus dem Boden. Es wäre aber dennoch vorteilhaft zu wissen, dass ein Mitglied der Landesregierung seinen Einflüsterern nicht völlig hilflos ausgeliefert ist, weil er nebenbei noch die Nationalbibliothek abstauben und den Wetterbericht von morgen studieren muss.
Die Gesundheit ist das höchste Gut, weiss der Volksmund. Aus einem Sprichwort ist inzwischen ein allmächtiger Gesetzgeber geworden. Verantwortet von einem Mann, der bei Amtsantritt das Thema Gesundheit nur als eines Teil eines dicken Pakets übernommen hat und von dem man immer den Eindruck hatte, dass ihm der Rest besser liegt.
Das geht gut, solange alles problemlos läuft. In der Krise klappt es nicht mehr.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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