Wir schreiben das Jahr 2030. Der Standort St.Gallen floriert. Endlich wieder. Nach Jahrzehnten des Stillstandes. Wie konnte es soweit kommen? Von Remo Daguati*.
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine ergänzende Information zu einem im Printmagazin «Die Ostschweiz» publizierten Artikel. Das Magazin kann via abo@dieostschweiz.ch bestellt werden.
Das Regionalzentrum der Ostschweiz, die Stadt St.Gallen, hat in nur zehn Jahren eine verrückte, beispiellose Wende geschafft. Die Bevölkerung stagnierte in den 10er-Jahren des neuen Jahrhunderts. Wissensbasierte Jobs gingen schleichend an andere Landesteile verloren. Einzig Verwaltungsgebäude frassen sich in die Innenstadt. Die Steuerkraft bewegte sich seitwärts mit Tendenz nach unten. Abenteuerliche Fehlinvestitionen der städtischen Betriebe in Trolley-, Glasfaser- und Fernwärmenetze führten dazu, dass das Dotationskapital nicht mehr abgebaut werden konnte. Der stotternde Motor der Gallusstadt wurde so zum Klumpfuss einer wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Ostschweiz. Während der Thurgau und die südlichen Kantonsteile von St.Gallen dank schnellen Verkehrsverbindungen brummten, wurde die Stadt St.Gallen immer mehr zum Problemfall. Im Jahr 2020 fassten sich die Städter ein Herz, dass ein Tradieren der Vergangenheit nicht zielführend war.
Dem ruhmvollen Wiederaufstieg der Ostschweiz ging eine clevere Reihe von irrsinnigen Verboten voraus. Aus einer Kunst-Performance der Riklin Zwillinge vom Atelier für Sonderaufgaben wurde im Herbst 2021 etwas Unnachahmliches lanciert. Den St.Gallern wurde ein mehrjähriges, bis heute andauerndes Verbot auferlegt, das Wort «Textil» zu verwenden. Bei Ansprachen, in Artikeln zu Wirtschaftsthemen oder bei der Vermarktung von touristischen Leistungen wurde unter Strafe gestellt, den Begriff «Textil» einzusetzen. Viele St.Galler mussten sich neu besinnen und notgedrungen völlig andere Geschäftsbereiche ausdenken.
Der Ausbau des gleichnamigen Museums zu einer Institution von nationaler Bedeutung macht natürlich keinen Sinn mehr. Stattdessen übernahm ein Kollektiv von Kreativunternehmen die unteren Geschosse des Traditionshauses an der Vadianstrasse zu marktüblichen Konditionen. Plötzlich schossen Arbeitsplätze in Design, Architektur, Kommunikation und Beratung wie Pilze aus dem Boden.
Um diesen fruchtbaren Nährboden bildete sich ein Cluster von Firmen, welche hochkomplexe 5D-Animationen bearbeiteten. Aus dem neu gewonnenen Wissen entstanden hochwertigste Algorithmen für IT-Anwendungen im Business-to-Business-Bereich. Der Erfolg drohte fast zu versiegen, da die meisten Bürogebäude und Hochbauten primär von Verwaltungseinheiten der Stadt und des Kantons belegt waren.
Ein Vorstoss im Kantonsrat im Sommer 2024 beendete die Büroknappheit, indem die bis dahin grassierende Umnutzung privater Gebäude für staatliche Zwecke vollständig untersagt wurde. Ausgerechnet die von Stadt und Kanton St.Gallen forcierte Bibliothek** im Stadtzentrum wurde Opfer dieses zusätzlichen Verbots. Das bestens gelegene Union-Gebäude gilt unter Insidern denn auch als eigentlicher Schmelztigel des heute weltweit bewunderten «Freud-Rosen-Valleys» mit seinen zahlreichen Technologie-Dienstleistern und Unternehmen der Fortune 500. Die Firmen eröffnen mittlerweile in Wil, Frauenfeld, Kreuzlingen, Buchs und Zürich Zweigstellen.
Leitfirmen rekrutieren das Gros der Studierenden von der technischen Universität St.Gallen (THSG). Diese bleiben dank den Zukunftsperspektiven auch nach dem Studium in der Ostschweiz. Doch nicht genug: die Ostschweizer Präzisionsindustrie katapultierte sich dank dem Joint Medical Master in neue Sphären. Um das Fachkräftepotential im Medtech-Sektor überhaupt abdecken zu können, wurde letztes Jahr die von Stadler Rail forcierte Hyperloop-Test-Strecke zwischen München und St.Gallen eröffnet. Das zu Beginn der 20er-Jahre noch mit Millionenbeiträgen ausgebaute städtische Trolleybus-Fahrleitungsnetz wurde hingegen umgenutzt. Es dient neu als Netzzufuhr für eine äusserst stimmungsvolle Abendbeleuchtung. Die textilen Leuchtkörper ziehen Besucher aus der ganzen Welt an. Ja, Sie werden es nicht glauben: die Leuchten sind so gefragt und werden weltweit exportiert, dass neuerdings auch der Textilsektor wieder zweistellige Wachstumszahlen aufweist und boomt, als gäbe es kein Morgen.
*Remo Daguati war im Jahr 2020 ein Spezialist für Standorte. Er brachte damals seine breite Erfahrung in Wirtschaftsfragen ein.
** In Bibliotheken wurden damals meist Texte und Illustrationen in Buchform ausgeliehen, die man trotz der weit verbreiteten Digitalisierung der Inhalte immer noch persönlich abholen musste.
Remo Daguati (*1975) betreut als unabhängiger Berater Standortförderungen sowie Arealentwicklungen im In- wie Ausland. Daneben wirkt er als Geschäftsführer des HEV Kanton und Stadt St.Gallen. Er ist zudem Mitglied (FDP) des Stadtparlaments St.Gallen.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.