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Aktionswoche 13. bis 19. März

«Wir möchten die Leute vor allem dazu ermuntern, hinzuschauen»

Ist ein Elternteil suchtkrank, kann das für Kinder verheerende Folgen haben. Die Aktionswoche für Kinder von Eltern mit einer Suchterkrankung soll Berührungsängste abbauen, sagt Rahel Gerber von der Suchtberatung Region Wil.

Manuela Bruhin am 09. März 2023

Seit seiner Kindheit hat der Vater von Daniel (Name geändert) regelmäßig Alkohol konsumiert. Als dieser dann mit etwa 50 Jahren seine Arbeit verlor, blieb er zu Hause und fing schon um 10 Uhr morgens an, Whisky zu trinken. Daniel erzählte es seinen Freunden. Doch auch sie waren mit der Situation überfordert, lachten ihn sogar aus.

Während seiner Schulzeit konnte er nie darüber sprechen. Später an der Uni hätte er gerne mit einem Psychiater oder Sozialberater darüber gesprochen, aber er wusste nicht, ob es so etwas gibt. Daniel erinnert sich: «Als mein Vater sturzbetrunken war und wie leblos auf dem Boden lag, rief ich die Ärzte an, die ihn behandelten. Ich stellte mich als seinen Sohn vor und sagte, dass er todbetrunken auf dem Boden liege.» Er hätte gesagt, er könne nicht mit ihm sprechen, weil er unter ärztlicher Schweigepflicht stehe. «Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wussten nicht, was sie tun sollten, und fühlten sich mit der Situation überfordert.»

Und genau hier setzt die Aktionswoche an. Das Umfeld wird auf die Thematik aufmerksam gemacht, damit solche Kinder wissen, wo sie Hilfe erhalten können. Wie das geht, erklärt Rahel Gerber von der Suchtberatung Region Wil.

Die Suchtberatung Region Wil beteiligt sich an der fünften Aktionswoche für Kinder von suchtkranken Kindern. Welche Erfahrungen hat man bisher mit den Aktionswochen gemacht?

Sehr gute. Wir waren 2019/20 mit einem Medientisch in der Stadtbibliothek präsent und haben gleichzeitig auch in den Corona-Jahren über verschiedene Netzwerke von der Aktionswoche berichtet.

Weshalb wurden die Aktionswochen damals ins Leben gerufen?

Die Idee wurde von der amerikanischen National Association for Children of Addiction (NACoA) ins Leben gerufen. In der Schweiz findet sie nun seit 2019 statt und wird von Sucht Schweiz koordiniert. Involviert sind Organisationen, die in den Bereichen Sucht – wie eben die Suchtberatung Region Wil – und im Bereich Familie, Jugend, Bildung und frühe Kindheit tätig sind. Diese machen mit diversen Aktivitäten auf dieses immer noch tabuisierte Thema aufmerksam und wollen es damit vermehrt sichtbar machen.

Im Coop Restaurant Uzwil und im Kafi Peter in Wil sowie in der Region gibt es entsprechende Informationsstände. Sind solche Partner jeweils schnell gefunden – oder gestaltet sich die Suche schwierig?

Wir mussten nicht lange suchen (lacht). Wir freuen uns, dass wir unsere Idee mit den Standaktionen vom 13. bis 19. März durchführen können. Dabei haben wir sehr unkompliziert, gute und wohlwollende Kooperationspartner gefunden.

Es ist schwierig, an die betroffenen Kinder heranzukommen. Wie unterstützend können die Aktionswochen hier wirken?

Wir als Suchtberatung begleiten unsere Klienten vorwiegend im Einzelsetting, daneben bieten wir auch Paar- und Familiengespräche an. In allen Gesprächen ist es uns wichtig, den Menschen in seinem ganzen System zu thematisieren und wahrzunehmen. Wie ist die Lebenssituation der Familie, wie geht es den Kindern unserer Klienten? Gleichzeitig arbeiten wir mit verschiedenen Akteuren der Stadt und Region Wil zusammen, um über diese die 'betroffenen Kinder' zu erreichen. Vor allem bieten wir seit 2018 spezifische Weiterbildungen für Fachperson aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen an, welche vermehrt mit betroffenen Eltern und Kindern konfrontiert sind. Es ist wichtig, dass Bezugspersonen ausserhalb der Familie, wie eben beispielsweise Lehrpersonen oder Schulsozialarbeitende, wissen, wie sie Kinder aus suchtbelasteten Familien erkennen und unterstützen können – ohne sie dadurch zu etikettieren. Mit den Informationsständen wollen wir möglichst viele Menschen sensibilisieren. Bei der Ausstellung werden dann auch unterschiedliche Flyer sowie QR_Code, mit denen weitere Informationen, Tests, Hörspiele und Filme zum Thema heruntergeladen werden können, aufgelegt.

Worunter leiden die Kinder suchtkranker Eltern am meisten?

Häufig übernehmen Kinder in solchen Familien vermehrt Verantwortung für die Eltern(-teile) oder jüngere Geschwister (Parentifizierung). Daneben fühlen sie sich oft schuldig, dass es der Mutter oder Vater wegen ihnen schlecht geht. Sie leiden unter Angst, Enttäuschung, Zweifel, Wut, Einsamkeit und Ohnmacht. Die Liste dieser negativen Gefühle ist individuell und lang. Bei unseren Informationsständen werden wir farbige Pappfiguren mit Sprechblasen aufstellen. Darauf stehen Aussagen wie 'Ich habe Angst, dass meiner Mutter etwas passiert' oder 'Mein Vater kommt oft betrunken nach Hause. Er wird schnell wütend und schreit mich an.' Diese Aussagen sollen die Gefühlswelt von Kindern und Jugendlichen darstellen und veranschaulichen, was sie beschäftigt.

Der Schwerpunkt bildet in diesem Jahr «Hinschauen – die Rolle des Umfelds». Auch wenn das Thema präsenter ist als auch schon: Wird nach wie vor zu wenig hingeschaut?

Das kann man so nicht abschliessend beantworten. Wir möchten die Leute vor allem dazu ermuntern, hinzuschauen, und die Probleme, die sie bemerken, zum Wohle der Familie und der Kinder anzusprechen. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, die Betroffenen zu unterstützen. In der Schweiz wachsen rund 100'000 Kinder in einem Elternhaus auf, das von Alkohol oder anderen Substanzen schwer belastet ist. Kinder aus solchen Familien haben tendenziell schlechtere Voraussetzungen, ihr Leben zu meistern. Sie haben ein sechsfach höheres Risiko, selbst süchtig zu werden und auch die Wahrscheinlichkeit in Folge des Erlebten psychisch krank zu werden, ist deutlich erhöht. Daher ist 'das Hinschauen', die Früherkennung und -Intervention sehr wichtig.

Was raten Sie den Personen, wenn sie einen Verdachtsfall haben?

Meist gilt es, der eigenen Wahrnehmung zu trauen und einen passenden Moment für ein Gespräch unter vier Augen mit der betroffenen Person zu wählen. Es geht darum, was ich beobachte und mich dies besorgt. Auch Menschen mit einer Suchtthematik wollen gute Eltern sein und es ist wenig hilfreich, wenn sie sich 'stigmatisiert und bedroht fühlen'. Sucht ist eine Erkrankung und benötigt wie andere Krankheiten Unterstützung. Hier könnte es ein gutes Angebot sein, auf eine Suchtberatung hinzuweisen oder die betroffene Person sogar zu begleiten. Ergänzend zu einer persönlichen Beratung können sich Interessierte und Nahestehende, aber auch betroffene Menschen mit ihren Fragen an die anonyme Online-Beratung auf der datenschutzsicheren Plattform https://www.safezone.ch/de/ wenden. Alle Beratungsangebote sind kostenlos und anonym.

Und was betroffenen Kindern?

Auch hier gilt, wie bei den Erwachsenen, dass ich Interesse zeige und Nachfrage, wenn ich den Eindruck habe, dass da 'etwas nicht stimmt'. Hier ist es wichtig, darauf zu achten, dass das Kind nicht dazu gedrängt wird, Dinge zu sagen, die ihm das Gefühl geben, seine Eltern zu verraten. Es soll in seiner Wahrnehmung ernstgenommen werden. Auch hier können Bücher oder Informationen helfen, dass das Kind oder der Jugendliche die Situation verstehen und seine Gefühle besser einordnen kann. Hierzu gibt es ebenfalls Hilfsangebote vor Ort oder unter www.mamatrinkt.ch / www.papatrinkt.ch mit hilfreichen Hinweisen und Foren für 8- bis 12- und 13- bis 20-Jährige. Zusätzliche Auskünfte zum Thema gibt es unter www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch zu finden.

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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