Global gesehen ist Corona nun ziemlich genau ein Jahr alt. Zeit für eine Bilanz aus Schweizer Sicht. Sie lautet: Die Zahlen und Fakten zu unserem Umgang mit dem Virus liegen auf dem Tisch, die Debatten verlaufen immer gleich, die Meinungen sind gemacht. Es bleibt nichts mehr zu sagen.
Geht es um Abstimmungen zu politischen Fragen, berufen sich Befürworter und Gegner meist auf völlig unterschiedliche Statistiken und Studien, die ihren Standpunkt erhärten. Man redet aneinander vorbei. Prognosen sind, wie ein hübsches Sprichwort sagt, bekanntlich vor allem dann schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Bei einer Initiative kann jeder behaupten, was er will, wenn es um die künftigen Auswirkungen geht. Es ist oft eine Glaubensfrage.
Nicht so beim Coronavirus. Die Verfechter möglichst harter Massnahmen und die Massnahmenskeptiker berufen sich auf dieselben Zahlen, dieselben Erkenntnisse. Sie ziehen einfach unterschiedliche Schlüsse daraus. Das heisst auch: Man kann keine überraschenden neuen Fakten hervorzaubern, die das Gegenüber überzeugen. Die Fronten sind verhärtet - auf der Grundlage derselben Zahlen.
Das sieht man in den sozialen Medien besonders schön. Wer einmal davon überzeugt ist, dass der aktuell eingesetzte Test tauglich ist und beweist, dass jemand erkrankt ist, der wird sich nicht eines Besseren belehren lassen, nicht mal bei der Lektüre des Beipackzettels. Wer beim Wort «Fallzahlen» instinktiv an schwer erkrankte Menschen auf Intensivstationen denkt - die Medien haben dieses Bild sorgfältig gepflegt - wird den Begriff nicht plötzlich anders deuten, nur weil ihm jemand erklärt, was «Fälle» bei Corona wirklich sind.
Wer Alarmrufe eines Kleinspitals im Kanton Schwyz als Gradmesser für die Lage der Intensivstationen in der Schweiz hält, der ist nicht empfänglich für die realen Zahlen, die eine landesweite Übersicht geben. Zumal der Bund ja auch alles daran setzt, dass man diese Übersicht nicht mehr so einfach erhält.
Wer die täglich rapportierte Zahl der Todesopfer verwechselt mit der Zahl an Menschen, die allein an diesem Virus gestorben sind, mag in seiner aufgewühlten Gemütsverfassung nicht darüber nachdenken, wer von unseren Bundesstatistikern mittlerweile alles dieser Gruppe zugeschlagen wird. Und wer das Medianalter der Verstorbenen ins Spiel bringt, wird niedergeschrien mit dem Hinweis darauf, dass jedes Todesopfer eines zu viel ist.
Wer im Freien eine Maske trägt und einen riesigen Bogen um einen «Maskenlosen» macht, ist ganz offensichtlich so tief in der Panik, dass ein Gespräch über den limitierten Effekt einer Schutzmaske sinnlos ist. Wer von SBB-Zugbegleitern verlangt, dass sie hart gegen Leute mit Maskenbefreiung vorgehen, ist so in seine neue Aufgabe vertieft, dass er oder sie nicht mehr zugänglich ist für Argumente.
Es ist alles gesagt. Es wurde alles ins Feld geführt. Alle Zahlen liegen vor. In den Kommentarspalten der Onlinezeitungen und in den sozialen Medien drehen sich alle im Kreis. Es gibt keine Debatten mehr, nur noch Pingpong, wobei der Ball bewusst am Gegner vorbei irgendwo ins Aus gedroschen wird. Denn man will nichts anderes hören als die eigene Überzeugung. Wer es anders sieht, handelt verantwortungslos und ist irgendwie sogar mitschuldig an diesen rekordhohen Zahlen in der Schweiz. Diese Zahlen wiederum dürfen nicht hinterfragt werden. Immerhin standen sie im «Blick».
Also muss man vermutlich einfach schweigen und zusehen. Was schwer fällt angesichts der Tatsache, dass die Wirtschaft leidet (was man übrigens nicht sagen darf, weil es respektlos ist gegenüber den Opfern), dass tief in die Privatsphäre und die Grundrechte der Menschen eingegriffen wird und sich immer mehr das Bild verdichtet, dass es dafür keinen Anlass gibt. Dass im Jahr 2020 vor allem eines gelitten hat: Die Verhältnismässigkeit. Und dass die Tatsache, dass es andernorts noch schlimmer läuft, kein Trost ist.
Ja, schweigen fällt schwer. Aber wenn alles gesagt ist, was will man sonst tun?
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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