Manchmal hilft ein Blick zurück, um die Zukunft besser zu verstehen. Besonders bei Corona.
Adriano Aguzzi, Pardon, Prof. Dr. med. Aguzzi, leitet das Institut für Neuropathologie am Unispital Zürich. Er beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie Prionen ins Hirn geraten und dort Unfug anstellen. Zum Beispiel infektiöse Krankheiten auslösen.
Das lastet Aguzzi aber nicht vollständig aus. Unvergessen sollte sein Auftritt vom 16. März 2020 im Schweizer Farbfernsehen sein. Deutlich agitiert und unter Zuhilfenahme von selbstgemalten Kurven appellierte der Professor an die Schweizer Bevölkerung, unbedingt zu Hause zu bleiben.
Sonst, fürchterlich, explodiere die Ansteckungsrate, denn es handle sich hier um ein exponentielles Wachstum, dozierte der Professor. Dann kramte er seine Schulkenntnisse von exponentiellen Kurven hervor, um zu zeigen, wie schnell nur schon eine Verdoppelung der Infizierten alle zwei Tage die Schweiz in ein flächendeckendes Krankenlager verwandeln würde. In nur zwei Wochen wäre man bei 50'000 Fällen, unkte er mit zitternder Stimme.
Man soll ja einem Professor nicht leichtfertig widersprechen. Nur, mehr als fünf Monate später beträgt die Zahl der registrierten Infizierten in der Schweiz – alle Einwohner? Nicht ganz, es sind rund 40'000.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Schweizer nicht monatelang lediglich zu Hause aufgehalten haben. Solche Fehlprognosen wären lustig, wenn sie nicht gravierende Auswirkungen hätten. Denn das Bedürfnis vieler Wissenschaftler, ihre fünf Minuten Ruhm durch die Pandemie weidlich auszunützen, hat glücklicherweise nicht zu den von ihnen prognostizierten Leichenbergen geführt, einem kollabierenden Gesundheitssystem und dem Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen.
Aber aufgrund solcher Ankündigungen wurden weltweit ganze Volkswirtschaften, ganze Gesellschaften in ein künstliches Koma versetzt. Lockdown wird das beschönigend genannt. Das bedeutet normalerweise Ausgangssperre. Hier bedeutete es den Anfang einer Wirtschaftskrise, wie sie die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr kannte.
Nachdem sich herausstellte, dass diese erste Welle von Infektionen doch nicht so dramatische Auswirkungen hatte, die Gesellschaften langsam daran gehen wollen, das Schlamassel aufzuräumen und eine Schadensbilanz zu ziehen, müssen die gleichen Wissenschaftler, in ihrer eigenen Logik und Folgerichtigkeit, vor einer zweiten Welle warnen.
Diesmal darf der Hinweis, dass ein zweiter Lockdown vielleicht nicht so eine gute Idee wäre, nicht fehlen. Aber auf jeden Fall müssten viele Lockerungen, der Versuch, wenigstens wieder einigermassen zur Normalität zurückzukehren, sofort abgebrochen werden.
Beispielsweise müsse das Tragen von Schutzmasken flächendeckend für obligatorisch erklärt werden. Nachdem die Medien lange Zeit die politischen Entscheidungen nur mit Jubelarien begleiteten, wagten auch sie den Schritt in die Normalität und begannen, vieles zu kritisieren. Aber inzwischen stehen sie wieder Gewehr bei Fuss; natürlich muss Maske tragen obligatorisch werden, überall; das dekretiert der Oberchefredaktor von Tamedia.
Die Zürcher Regierung gehorchte: Ab Donnerstag wird der Maskenzwang erweitert; er gilt dann auch in allen Geschäften. Die Ostschweiz ist – noch – von solchen Massnahmen verschont.
Das schwedische Modell, also der Verzicht auf drakonische Massnahmen, der Verzicht auf Maskentragen, sei völlig gescheitert, echot der frühere Auslandredaktor und angelernte Seuchenspezialist Sandro Benini auf Tamedia. In einer wahren Philippika tut er allen die Knöpfe rein, denen es schwerfalle, einzusehen, «dass die schwedische Corona-Strategie gescheitert ist».
Mit anderen Worten: Der Lockdown war richtig, die Schadensbilanz von vorläufig rund 100 Milliarden Franken unvermeidbar. Dass es bislang in der Schweiz keine signifikante Übersterblichkeit gab, also mehr Tote als in Vergleichsjahren, das liege natürlich nur an den drakonischen Massnahmen.
Dass es bis heute keine belastbaren Zahlen zur Durchseuchung der Schweiz gibt; dass es, abgesehen von fehlerhaften Meldungen des Bundesamts für Gesundheit, keinen einzigen Toten unter 60 ohne Vorerkrankung gab; dass es absurd ist, auf weitere Wellen nochmals mit drakonischen Massnahmen zu reagieren, statt einfach die Hochrisikogruppen, alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, besonders zu schützen, das sagen nur verantwortungslose Laien.
Während sich aber die verantwortungsvollen Koryphäen bislang mehrheitlich eins ums andere Mal bis auf die Knochen blamiert haben. Das heisst natürlich nicht, die potenzielle Gefahr dieses Virus zu unterschätzen. Es sieht aber immer mehr danach aus, dass die grösste Gefahr für unsere Gesellschaft nicht von dieser Pandemie ausgeht. Sondern von politischen Entscheidungen im Blindflug, abgestützt auf fragwürdige Modelle und Behauptungen von Wissenschaftlern.
Deren Fähigkeit, aus ihren eigenen Fehlern zu lernen, offensichtlich von ihrer professoralen Selbstblendung überstrahlt wird.
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