Mit Semesterbeginn am Montag gilt auf dem Campus der Universität St.Gallen die 3G-Zertifikatspflicht. Dagegen regt sich Widerstand aus der Studentenschaft. Die Kritiker der Massnahme formieren sich auf digitalen Kanälen. Ihre Forderung: Bildung für alle – ohne Diskriminierung.
Die Meldung kam per E-Mail rund eine Woche vor dem Start ins neue Semester. Das Rektorat der Universität St.Gallen informierte die Studenten- und Dozentenschaft darüber, dass die Zertifikatspflicht für den Lehrbetrieb eingeführt werde. Die vom Bundesrat beschlossene Ausweitung dieser Pflicht betrifft Bildungsinstitutionen nicht; diesen ist es aber selbst überlassen, eine solche anzuwenden. An der HSG hat man sich nun dazu entschlossen. Ziel sei es, damit zur Präsenzlehre zurückzukehren. «In den Hörsälen entfallen die Maskenpflicht und die Kapazitätsbeschränkungen», heisst es im Schreiben weiter.
Das kommt nicht bei allen gut an. Kurz nach der Nachricht begannen Studentinnen und Studenten, sich digital zu vernetzen. Nach knapp zwei Tagen waren es bereits weit über 200 Betroffene, die sich über die Zertifikatspflicht austauschten. «Es geht uns nicht um die Impffrage, das ist ein individueller Entscheid», sagt Jean-Michel Beerli, der nach einigen Jahren in der Wirtschaft am Montag mit dem Masterstudium beginnt, «sondern darum, dass Bildung grundsätzlich zertifikatsfrei bleiben soll und man Alternativen dazu prüfen sollte.»
Zu den Kritikern, die kurz vor dem Semesterstart Stellung beziehen, gehören neben Beerli aktuelle Studenten wie Sophia Graf und Marc Schenk, aber auch Alumni der HSG wie Pascal Tomasovic. Andere wie Anna Müller von der Pädagogischen Hochschule, die noch nicht direkt betroffen ist von der Zertifikatspflicht, solidarisieren sich vorbeugend mit den HSG-Studenten. Sie stellen im Gespräch klar, dass sie nicht die Konfrontation, sondern die Debatte suchen. Diese gestalte sich aber schwierig. Auf Anfragen ans Rektorat habe man eine immer gleich lautende Standardantwort erhalten.
Dabei habe sich gezeigt, dass die HSG-Leitung die Verantwortung auf die Professoren und Dozenten abschiebe, sagt das Quintett. Denn im Unterschied zur langen Phase, in der die Universität ganz auf die Online-Lehre setzen musste, ist nun nicht geplant, das weiterhin flächendeckend anzubieten. Es werde etlichen Studierenden in der derzeitigen Situation nicht möglich sein, ihre Kurse vollständig vor Ort zu besuchen, etwa, wenn sie der Risikogruppe angehören, schreibt das Rektorat. Und weiter: «Die Dozierenden sind daher angehalten, die angemessene Teilhabe aller Kursteilnehmenden sicherzustellen, sodass ein Kurs auch dann erfolgreich abgeschlossen werden kann, wenn man ihn nicht physisch besucht hat.» Ob man in den Genuss einer Onlinevorlesung kommt, ist also vom Einzelfall abhängig.
Die Massnahme lässt auch sonst vieles im Dunkeln. In der Altersgruppe, in der sich die meisten Studenten bewegen, sind nach wie vor über 40 Prozent der Personen nicht geimpft. «Die Universität weiss zum heutigen Zeitpunkt nicht einmal, wie viele von einem Ausschluss durch die Zertifikatspflicht betroffen sein werden», so Sophia Graf. Sie habe den Eindruck, es sei überstürzt gehandelt worden.
Inzwischen hat die Universität mit einer erneuten Nachricht weiter informiert. Vom 1. Oktober an, wenn die Tests kostenpflichtig sind, werden sie der Studentenschaft gratis angeboten – allerdings nur bis Mitte November. Damit habe man genug Zeit, die Impfung nachzuholen, begründet die HSG. Der Tonfall des Schreibens ist ziemlich ruppig. Zertifikat und ID seien stets griffbereit zu halten, Sicherheitsmitarbeitende auf dem Gelände würden Stichproben machen, und wer kein Zertifikat habe, müsse eine Gesichtsmaske aufsetzen und den Campus umgehend verlassen. Im Wiederholungsfall müsse man «mit disziplinarischen Massnahmen rechnen.»
Sechs Wochen lang werden Ungeimpfte, die getestet an die Vorlesung wollen, also immerhin nicht finanziell belastet. Doch die fünf Kritiker sind sich einig: Auch kostenlose Tests – die dann der Steuerzahler berappen müsste – sind keine Lösung. Denn sie stossen sich ganz prinzipiell an der Zertifikatspflicht. Es gebe auch Professoren, die die Massnahme als willkürlich kritisieren, dies aber nicht namentlich tun können. Namhafte Fachleute kritisieren, es fehle an einer Rechtsgrundlage für diese Massnahme. Das zeigte sich auch, als eine 3G-Pflicht für das Bundesparlament gefordert wurde und der Bund auf die fehlende entsprechende Gesetzgebung hinwies.
Die Zertifikatspflicht verstosse darüber hinaus aber auch gegen die selbstdeklarierten Werte der HSG, die auf Inklusion und Diversität setzt, so die fünf Studenten. Niemand dürfe diskriminiert werden, hält die Universität auf ihrer Webseite fest, auf gesundheitliche Bedürfnisse und Einschränkungen werde Rücksicht genommen.
Doch wie sähe eine mögliche Alternative aus? Für die Studenten ist klar: Ein umfassendes Schutzkonzept statt der Zertifikatspflicht sei aufwändiger für die Universität, sie wähle nun den einfacheren Weg. «Aber eine Hochschule muss für alle zugänglich sein, von ihr darf man den Mehraufwand erwarten.»
Zumal es sich beim Studium in den meisten Fällen wie auch bei ihm um eine Erstausbildung handle, so Marc Schenk. «Wenn man diese einschränkt, hat das eine ganz andere Dimension, als wenn man den Zugang zur Gastronomie oder in ein Fitnesscenter erschwert.» Bildung sei ein «fundamentales Grundrecht», und mit der Zertifikatspflicht werde einem Teil der Studenten eine Erstausbildung faktisch verunmöglicht.
Die Kritiker der Zertifikatspflicht wollen ihr Anliegen auf verschiedenen Ebenen verfolgen. Eine Demonstration zum Semesterstart ist ein erstes sichtbares Symbol. Gleichzeitig will man sich weiter vernetzen, auch mit der Studentenschaft an anderen Universitäten, die gleich vorgehen wie die HSG. Man befürchte an allen Bildungsinstitutionen mit Zertifikatspflicht eine Spaltung. Bereits bilden sich Lager, der Umgangston zwischen diesen sei oft wenig freundlich.
Für die fünf Studenten steht die Zertifikatspflicht auch einer höheren Idee entgegen: Dass eine Universität Strukturen schafft, die optimal sind für die persönliche Weiterentwicklung. Den Studierenden müsse gezeigt werden, wie sie selbst Verantwortung übernehmen, sich stattdessen von einem Zertifikat steuern zu lassen, sei strukturell falsch. «Denn dann denkt man nicht mehr selbst.»
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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