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Gastkommentar

Zertifizierte Menschen

Mit dem Covid-19-Zertifikat gibt es nun zwei Klassen von Menschen. Die Guten, die dem Bundesamt für Gesundheit gehorchen, und die Bösen, die die Pandemie verlängern und vom Gesellschaftsleben ausgeschlossen gehören. Wo bleibt der Widerstand?

Giuseppe Gracia am 10. September 2021

Wer sich nicht impfen lässt, ist unsolidarisch und sollte mit sozialen Nachteilen bestraft werden, am besten zu Hause bleiben, bis er merkt, was er für ein Trottel ist. Wer sich nicht impfen lässt, ist schuld an der nächsten, übernächsten und überübernächsten Pandemiewelle. Solche schlechten Menschen müssen, wie das Virus selbst, bekämpft und eingesperrt werden. Nur noch zertifizierte Menschen sollen alle Grundrechte geniessen dürfen.

Was vor ein paar Monaten noch als das Gerede eines Verschwörungstheoretikers taxiert worden wäre, ist heute Tatsache. Viele Menschen in der Schweiz, die sich ihre Gewissheiten vom Schweizer Fernsehen oder von sonst einem staatsfrommen Medium in die Wohnstube liefern lassen, dürften der Meinung sein, das Covid-19-Zertifikat sei eine gute Sache und bestrafe zu recht jene, die immer noch nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen hat. Allerhöchste Eisenbahn für die Impfung, damit die Pandemie vorbei geht.

Aber die Pandemie geht nicht vorbei. Sie geht nicht vorbei in Israel, wo die grosse Mehrheit längst geimpft ist und wo sich zeigt, dass Impfungen etwa 6 Monate nützen und das Spiel dann von vorne beginnt. Die Pandemie geht nicht vorbei in den USA oder sonstwo auf der Welt, wo sich zeigt: auch die Geimpften werden von kommenden Mutationen getroffen und können schwer erkranken. Die Pandemie wird noch sehr lange nicht vorbei sein. Denn die Medien wollen gefüttert und die Regierungen mit der Sicherheit ausgestattet werden, und dass sie alles getan haben, was sie konnten. Und dass im Falle des Versagens die sprungbereiten Medien sich auf jemand anderen stürzen, idealerweise auf die Ungeimpften.

Wo bleibt hier eigentlich der breite Widerstand der Bevölkerung? Oder wenigstens der Widerstand unserer Intelligenzia, die sich doch zuständig fühlen sollte für die Verteidigung unserer Freiheit, unserer helvetischen DNA als Nation der Föderalisten, der EU-Eigenbrötler und Skeptiker der Macht?

Die meisten National- und Ständeräte scheinen abgetaucht zu sein. Sie sekundieren die Regierung, reden elementare Eingriffe in die Grundrechte schön oder verkriechen sich weiter in ihr Schweigen. Und was ist mit den Juristen? Mit den Richtern oder Staatsrechtlern? Es ist ja offenkundig: vor dem Gericht des öffentlichen Lebens und des Bundesamtes für Gesundheit bedeutet die Zertifikatspflicht jetzt eine «Beweislastumkehr». Ich muss beweisen, dass ich nicht krank bin. Jeder Jurist weiss, dass in einem Rechtsstaat der Mensch als unschuldig gilt, bis seine Schuld bewiesen ist. Die Beweislast liegt beim Staat. Will er mir Rechte entziehen, muss er beweisen, dass ich gefährlich bin (in diesem Fall krank). Mit dem Zertifikat muss ich nun beweisen, dass ich nicht krank bin. Wo bleibt da der Protest der Rechtsgelehrten?

Und was ist mit den Feministinnen, mit den Progressiven oder den Liberalen? Sie alle haben, solange es um Abtreibung oder Sterbehilfe ging, seit Jahren betont: «Mein Körper gehört mir!» Seit Corona zählt das plötzlich nicht mehr. Mit Maskenzwang und Zertifikat heisst es nun: «Dein Körper gehört der Solidargemeinschaft.» Wo bleibt der Protest der Feministinnen, der Progressiven, der Liberalen?

Und was ist mit den linken Kapitalismuskritikern und Moralisten der Konzerverantwortungs-Initative? Noch vor wenigen Monaten zogen sie über böse Konzerne her, die mit dubiosen Geschäften Milliarden scheffeln. Und nun wissen wir, dass sie mit den Corona-Impfstoffen noch viel mehr Milliarden scheffeln. Und sie haben vertraglich dafür gesorgt, dass sie nicht haften müssen für die Langzeitwirkung der Impfung. Sie haben einen Haftungsausschluss mit den Käufern vereinbart, auch mit dem Schweizer Staat. Der Impfstoff ist für sie eine Goldgrube, ganz ohne rechtliches Risiko. Wo bleibt da der Protest der linksgrünen, antikapitalistischen Schickeria?

Wenn man auf einen Friedhof geht und feststellt, dass die Toten schweigen, dann ist das ein Schweigen, das niemanden stutzig macht, denn die Toten reden nun einmal nicht viel. Wenn hier aber so viele gesellschaftliche Akteuere schweigen, dann ist dieses Schweigen doch auffallend. Und irgendwie vielsagend.

Giuseppe Gracia (54) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Glorias Finale» ist erschienen bei Nagel & Kimche, Zürich.

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