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Kommentar

Alle reden nur vom bösen Wolf – dabei wäre eine andere Frage viel spannender

Ein böser Wolf im Appenzellerland reisst ein unschuldiges Schaf – für die meisten ist klar: Der Wolf muss abgeknallt werden. Diese Forderung greift jedoch zu kurz.

Manuela Bruhin am 20. Mai 2024

Ein Wolf greift in freier Wildbahn einen Menschen an – haben Sie diese Schlagzeilen jemals gelesen? Nein? Dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Denn, wie jüngst eine Studie herausfand, sind Wolfsangriffe auf Menschen extrem selten.

Anders sieht es hier aus: Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz rund 1'500 Nutztiere von Wölfen gerissen. Weil es immer mehr Wölfe werden, steigt entsprechend auch diese Zahl laufend an. Jüngst streifte ein Wolf in den Wäldern des Appenzellerlandes umher und riss ein Reh, ein Schaf und ein Alpaka.

Natürlich ist das für die Nutztiere und deren Besitzer bitter. Schnell werden die Rufe laut, dass man den Wolf abschiessen sollte. Seit Dezember 2023 können Wölfe unter definierten Bedingungen reguliert werden. Wobei «reguliert» bloss ein schöneres Wort für «geschossen» ist.

Entscheidendes Detail

Für viele ist klar: Die unschuldigen Ziegen, Schafe und Alpakas müssen vorm bösen Wolf geschützt werden. Das ist in der Tat so – doch muss das gleich mit dem Abknallen des Wolfes gleichgesetzt werden? Müssen wir uns nicht viel mehr die Frage stellen: Weshalb war es im besagten Fall im Appenzellerland überhaupt möglich, dass ein Wolf ein Schaf und ein Alpaka reissen konnte?

Die Antwort lautet: Weil es ihm zu einfach gemacht wurde. Denn gibt es in der Region Wolfssichtungen, werden die registrierten Tierhalter durch einen SMS-Alarm informiert. Im Falle des gerissenen Alpakas waren die Tiere zwar sachgerecht eingezäunt. Jedoch fehlten laut Kantonsangaben die stromführenden Litzen – und somit waren die Kriterien für den Herdenschutz nicht erfüllt. Auch das gerissene Schaf in Teufen war nicht durch Herdenschutzmassnahmen geschützt.

Wenn zwei dasselbe tun…

Deshalb muss doch auch die Frage erlaubt sein: Weshalb schützen die Besitzer ihre Tiere nicht besser? Wäre eine Aktion in diesem Fall nicht besser als eine Reaktion? Seien wir ehrlich: Ein Wolf ist zwar ein begnadeter Jäger. Doch wird ihm die Jagd erschwert, holt er sich seine Beute eben wo anders. Erhält er von einem Zaun einen elektrischen Schlag, wird ihm sprichwörtlich der Appetit schnell vergehen.

Natürlich sind Herdenschutzmassnahmen nicht überall einfach so umzusetzen. Ist das Gelände beispielsweise hügelig oder von einem Bach durchzogen, wird es schwieriger, einen Elektrozaun anzubringen. Doch in den besagten Fällen hätte der Wolfsriss mit eben einem solchen verhindert werden können.

Statt einer sachlichen Diskussion gibt es bei der Wolfsthematik jedoch für viele nur Schwarz-Weiss-Denken. Ein Tier wird gerissen: Der Wolf muss weg. Fakt ist jedoch: Der Wolf war schon lange Zeit vor uns da. Wird ein Reh von einem Jäger geschossen, ist der Aufschrei längst nicht so gross, wie wenn es von einem Wolf gerissen wird. Ebenso verhält es sich, wenn ein Rind auf der Alp auf unwegsamen Geländen abstürzt. Oder vom Blitz getroffen wird.

Auch die Medien tragen zu diesem Bild bei: Schliesslich lässt sich eine Geschichte über einen Bergbauern, der seine Schafe durch einen Wolfsriss verloren hat, um Längen besser vermarkten, als ein vom Jäger geschossenes Reh, das bei uns auf dem Teller landet.

Blick über den Tellerrand

Spannend ist auch die Frage, wie das Ausland mit der steigenden Wolfspopulation umgeht. In den wenigsten Ländern ist nämlich die Regulierung erlaubt. Deshalb sorgt die neue Jagdverordnung in der Schweiz für kritische Meinungen bei ausländischen Experten.

Wie sinnvoll ist es, den Wolfsbestand in der Schweiz zu regulieren, wenn es das benachbarte Ausland nicht tut? Ein Wolf wird sich wohl eher weniger an die Landesgrenzen halten und erst einmal für die Einreise anklopfen, ob sein Aufenthalt hier erwünscht sei. Wie dynamisch die Wolfsbewegung ist, zeigt folgender Fall. Laut einem Experten konnte ein Wolf, der in Graubünden mit einem Funkhalsband markiert wurde, 2'000 Kilometer entfernt in der Slowakei gefunden werden. Seine Einschätzung, welche er gegenüber SRF abgibt, sollte zum Nachdenken anregen. Die Dezimierung, welche die Schweiz heute vornehme, müsste seiner Meinung nach jedes Jahr wiederholt werden. «Und diese Haltung scheint mir etwas arrogant; dass man den menschlichen Interessen den Vorrang gegenüber den Interessen der Wildtiere gibt.»

(Bild: Archiv)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) aus Waldkirch ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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