Max R. Hungerbühler.
Soll das St.Galler Textilmuseum mehr Geld erhalten? Die Kritik eines Politikers an dieser Vorlage ruft Gegenstimmen hervor. Max R. Hungerbühler, Kenner der Textilbranche, schreibt, dass die Textilindustrie noch lange nicht tot sei - und St.Gallen an anderen Problemen kranke.
Max R. Hungerbühler, der frühere CEO und Verwaltungsratspräsident von Bischoff Textil, ist Ehrenpräsident des Verbandes Swiss Textile sowie Vorstandsmitglied des Vereins Textilmuseum. Die Ausführungen von FDP-Stadtparlamentarier Remo Daguati in «Die Ostschweiz» haben ihn auf den Plan gerufen. In der folgenden Stellungnahme ruft er nicht nur die Bedeutung der Textilindustrie für St.Gallen in Erinnerung, sondern auch, wie sie die Stadt heute noch prägt.
Die Replik von Max R. Hungerbühler:
Wie revolutionär klang der Schlachtruf der 1968er, alte Zöpfe abzuschneiden, um Neuem Platz zu machen. Die Visionen waren kühn und inhaltvoll, wenngleich ihre Umsetzung nicht immer der Realität Stand hielt. Ein halbes Jahrhundert später bemüht der St. Galler FDP-Stadtparlamentarier Remo Daguati dasselbe Zitat als nun verblassten Abklatsch der einstigen Innovationsfreude, um «den alten textilen Zopf» abzuschneiden.
Schliesslich, so seine Argumentation, scheinen Wohl und Wehe unserer Stadt durch ein Bekenntnis zu dieser Industrie in Frage gestellt. Stein seines Anstosses ist die angestrebte Erhöhung der städtischen Beiträge an das Textilmuseum von 280´000 auf 430´000 Franken pro Jahr. Der Antrag wurde zwar zwischenzeitlich an den Stadtrat zur inhaltlichen Überarbeitung zurückgewiesen, die Bedeutung des Textilmuseums für die Identität St. Gallens aber ausdrücklich bestätigt.
So «sachlich», wie Autor und «Die Ostschweiz»-Chefredaktor Stefan Millius die von ihm am 24.10.2018 unreflektiert wiedergegebenen Thesen Daguatis nennt, sind diese beileibe nicht. St. Gallen tritt mit stagnierenden Einwohnerzahlen und Wertschöpfung auf der Stelle, soviel ist momentan leidige Tatsache. Dass die Unterstützung des Textilmuseums Schuld an dieser wenig erfreulichen Entwicklung trägt, darf jedoch getrost angezweifelt werden.
Ebensowenig ist eine Industrie «tot», wenn sie sich nicht mehr zahlenmässig als Hauptarbeitgeber profiliert. Sonst müsste der Stadtparlamentarier in demselben Atemzug den Sinn der Stiftsbibliothek (es gibt schon lange keine Mönche mehr dort), der Tonhalle (wozu noch für viel Geld irgendwelche «alte» Musik aufführen?) oder besagter Bratwurst (wo es doch international vertretene Burger gibt) in Frage stellen.
Ein wesentlicher Grund, warum St. Gallen trotz seiner vielfältigen Potentiale seit Jahren nicht vom Fleck kommt, ist hingegen die Angst vor der eigenen oder anderer Grösse. Dies zeigen überdeutlich die Ausführungen Herrn Daguatis, der sich bereits von einem neun Meter hohen Lämmlerbrunnen bedroht fühlt. Im Gegensatz zu weitsichtigem Denken in übergeordneten Dimensionen, mit dem die Textilbranche die Ostschweizer Metropole auch in Bereichen voran gebracht hat, die sich der Vorstellungswelt des Politikers nicht erschliessen, macht sich seit Jahren nicht nur kleingeistiges Nivellierungsstreben breit, sondern eine fast lustvoll-masochistische Selbstgeisselung all dessen, was unsere Stadt auszeichnet.
Wenn Daguati die positive Entwicklung der Universität mit geplanter Standorterweiterung lobt, sollte er nicht vergessen, dass diese Institution als erste Wirtschaftshochschule der Schweiz ohne textile Initiative nicht in St. Gallen entstanden wäre. Ebensowenig käme dann der erwähnte Medical Master zustande.
Auch die weiteren von Remo Daguati angeführten Sterne am Stadtentwicklungshimmel entlarven sich bei genauerem Hinsehen als trübes Licht: Das Areal St. Fiden ist im Moment nichts anderes als ein jahrelang erörtertes Diskussionsthema. Die Euphorie über eine neue Olma-Halle relativiert sich angesichts eines andauernden Rückgangs von Besucherzahlen der Hauptmesse sowie dem Wegzug führender Kongresse, weil St. Gallen in der Hotelplanung auf keinen grünen Zweig kommt. Oder sollen die Kongressteilnehmer gleich in der schönen, neuen Halle im Massenlager übernachten? Aufgrund der Imitierbarkeit und Standortunabhängigkeit von Technik wäre es zudem trügerisch, bei der Entwicklung einer Region zu stark auf das IT-Pferd zu setzen.
Um den qualitativen Wert nicht nur von Kultur und Tradition, sondern auch von Kreativität, Stil und Image einer international anerkanntem High End-Branche zu estimieren, bedarf es freilich eines differenzierteren Horizontes als die binäre Unterscheidung von Null und Eins. Kultur und Kreativität als zentrale Ingredienzien des textilen Schaffens stellen die am wenigsten imitierbaren USP dar, wenn sich die Schweiz als rohstoffarmes Hochpreisland auch künftig gegenüber aufstrebenden Schwellenländern behaupten möchte.
Gegenwart und Zukunft sind Ergebnis der Geschichte, so dass es sich lohnt, diese zu analysieren und daraus zu lernen – zum Beispiel in Museen. Ein reflektierter Blick auf die Branche zeigt dann, wie die genannten Faktoren in Zeiten des Strukturwandels während der 800-jährigen Textiltradition St. Gallens in Krisenzeiten der Motor waren für zukunftsweisende Transformationen.
Die Antwort, wie diese für St. Gallen inhaltlich aussehen könnten, bleibt Stadtentwickler Daguati hingegen schuldig in seinem Ruf nach Neupositionierung um jeden Preis. Er täte gut daran, den «textilen Zopf» zu bewahren, um nicht selbst gänzlich kahl dazustehen!
Max R. Hungerbühler.
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