Ein Nebenprodukt aus der Käseherstellung brachte der Ostschweiz einst einen wirtschaftlichen Aufschwung. Das Image als Gesundheitsregion ist geblieben - dank dem einstigen «Hype» rund um Molke.
Ein gut situierter Zürcher Geschäftsmann namens Steinbrüchel war lungenkrank. Die damaligen Ärzte hielten ihn für «austherapiert». Im medizinischen Jargon wird damit die erfolglose Anwendung sämtlicher Heilbehandlungen umschrieben.
Gesunder Menschenschlag
In seiner Not wandte er sich 1749 an seinen Schwager, der in Arbon als Arzt praktizierte. Dieser empfahl ihm eine Molkekur in Gais. Der Städter nahm zusammen mit seinem Schwager den beschwerlichen Aufstieg über einen Saumpfad in das Dorf auf sich. Beim Ochsenwirt Ulrich Heim fanden sie Unterkunft. Molkeanwendungen waren damals in Graubünden gebräuchlich, im Appenzellerland waren sie neu. Ursprünglich verschrieben sie die Ärzte der griechischen Antike als Heilmittel.
Nach rund zwei Wochen täglichen Trinkens von Ziegenmolke machte sich bei Steinbrüchel eine Besserung bemerkbar, es folgte eine völlige Genesung. Damit war ein Mythos geboren, der sich schnell herumsprach: im voralpinen Gebiet leben vitale Menschen, dank ihrer naturnahen Lebensweise in gesunder Luft sind sie robust. Die Ärzte in nah und fern schrieben in der Folge gerne «Molkekur» auf ihren Rezeptblock. Es entstand ein Hype um den Aufenthalt bei den Appenzellern.
Sie beeindruckten die Fremden auch durch ihre Schlagfertigkeit und ihre Freiheitsliebe. Die Kurgäste genossen auch die unkomplizierte Geselligkeit mit den Einheimischen. Sie sahen in alldem eine unverdorbene Art des Menschseins. Die Rückbesinnung auf die Natur und das möglichst ungekünstelte Leben waren damals in. Die Schriften des Philosoph Jean-Jacques Rousseau propagierten sie. Das Landleben wurde von den Städtern wenig realistisch verklärt.
Stadtluft versus Landluft
Dass damals allmählich die Industrialisierung mit ihren rauchenden Schloten und den fauchenden Dampfmaschinen und -loks einsetzte, mag den Zurück-zur-Natur-Trend unterstützt haben. Mit steigendem Tempo im Alltag und den neuen Immissionen traten auch bisher kaum bekannte Beschwerden wie allgemeine Nervosität und Nervenschwäche auf.
Die Ziegenmolke wurde damals täglich frisch von den Alpen in die entstandenen Kurhäuser gebracht. Da die Molke in warmen Zustand getrunken werde sollte, wurde sie in vorgewärmte Tansen abgefüllt, die ihrerseits für den Transport mit Wolldecken umwickelt wurden. Zum Teil marschierten die sogenannten Schottengänger um 3 Uhr in der Früh bei ihrem Ziegenstall los.
Morgens um 6 Uhr wurde den vornehmen Kurgästen per Glocke mitgeteilt, dass ihr Heilmittel soeben angekommen sei. Sogleich eilten sie mit ihrem Trinkgefäss herbei. Sie flanierten bis 8 Uhr nippend und plaudernd auf und ab, während zur Unterhaltung eine Kapelle spielte.
Bewegung in Luft und Licht
Insbesondere die Kräuter im Futter der Ziegen galten als besonders heilkräftig. In der Molke wurden die Wirkstoffe von Augentrost, Schafgarbe, Alpenlöwenzahn, Baldrian, Kresse und weiteren Heilpflanzen angenommen. Die Kur sollte möglichst nicht vor Mitte Juni begonnen werden, da ab diesem Zeitpunkt die Ziegen besonders hoch in die Berge stiegen, um zu fressen.
Durch den ab 1825 in Gais praktizierenden Arzt Johann Heinrich Heim bekam die Ziegenmolke sozusagen ein zusätzliches medizinisches Gütesiegel. Er war ein profilierter Verfechter der Molkekuren. Molke besteht im Wesentlichen aus Wasser, Milchzucker, Mineralstoffen und Vitaminen.
Fremdenverkehrsboom
Der als sehr kommunikativ geltende Ochsenwirt Ueli Heim erkannte damals auch ohne HSG-Studium einen neuen boomenden Markt. Das zuvor vor allem von der Landwirtschaft geprägte Appenzellerland erlebte durch die Kurgäste einen massiven wirtschaftlichen Aufschwung. Aus diversen Gasthäusern wurden damals Kurhäuser. Die leidenden Fremden reisten von immer weiter her an. Selbst Gekrönte, Minister und Spitzenpolitiker nippten am warmen Saft der Ziegen.
Für die Gäste war auch die entsprechende Infrastruktur erforderlich, auch das Gewerbe profitierte vom Gesundheitstourismus. Die Fremden wurden anfänglich mit Sänften und mit Saumtieren ab St. Gallen nach Gais transportiert, später waren es Kutschen und nachfolgend Bahn und Busse. Den Rekonvaleszenten wurde eine gemüse- und obstbetonte Kost aufgetischt. Die Zutaten wurden aus dem Rheintal bezogen. Leicht verdauliche Fische stammten aus dem Bodensee. Als Folge des Kurbetriebs entdeckten auch Tagesausflügler das hügelige Land zwischen Bodensee und Alpstein als Erholungsgebiet. Damit prosperierte die ganze Region.
Besonders gesunde Luft
Das florierende Geschäft mit den Leidenden blieb in der Region nicht unbemerkt, an verschiedenen Orten entstanden Molke- und Luftkurorte, etwa in Weissbad sowie in Herisau, mit dem Heinrichsbad, zum Teil in Verbindung mit Heilwasser-Anwendnungen.
Um 1890 warben in der Schweiz dreissig Molkekurorte um Gäste. Wer gut im Geschäft bleiben will, braucht ein Alleinstellungsmerkmal, bald hiess es, von allen Luftkurorten sei die Luft in Gais am allerbesten.
Der Wind drehte
Wie gewonnen, so zerronnen: Plötzlich erschienen in den Medien Berichte, die Kritik an den Molkekuren übten. Sie seien medizinisch wertlos, hiess es etwa. Und auch die Geschäftstüchtigkeit der Einheimischen sei mit der naturnahen Lebensweise nicht zu vereinbaren, publizierten einzelne Reiseschriftsteller. Um 1900 war der Boom des Molketourimus vorbei.
Hautregenration
Seit einigen Jahren erlebt die Molke eine Renaissance, sie gilt nicht mehr als Universalheilmittel, aber als Wellness-Produkt. Besonders geschätzt wird, dass sie fettarm, jedoch reich an Protein, an Kalzium sowie Lactose ist, die sich günstig auf die Verdauung auswirkt. Auch Molkebäder werden immer häufiger nachgefragt. Mit Hilfe der molkeeigenen Milchsäure wird der Säureschutzmantel der Haut ausgeglichen und damit die Abwehrkräfte der Haut gestärkt. Neben der pflegenden und beruhigenden Wirkung versorgt ein Molkebad die Haut mit Feuchtigkeit, es wirkt rückfettend und entzündungshemmend zugleich. Die Molke schützt empfindliche Haut vor dem Austrocknen und unterstützt ihre Regeneration.
Das Baden in Molke wird unter anderem zur Behandlungen von Hautkrankheiten, wie zum Beispiel Neurodermitis oder allergischen Hautreaktionen, empfohlen. Aber auch zur Behandlung von Cellulite oder zur Unterstützung von Diäten und Fastenkuren werden Molkebäder wegen ihrer entschlackenden und gewebestraffenden Wirkung geschätzt.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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