Das Opfer Abraham Grünbaum. (Screenshot: SRF)
21 Jahre sind je nach Perspektive eine lange Zeit oder nur ein Wimpernschlag. Der Mord am israelischen Rabbiner Abraham Grünbaum im Jahr 2001 mitten in Zürich sorgte damals wochenlang für Schlagzeilen – und ist bis heute bei vielen unvergessen.
Zehn Jahre später später flammte das öffentliche Interesse noch einmal für kurze Zeit auf, als die Taten des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) in Deutschland ans Tageslicht kamen. Ein möglicher Zusammenhang mit dem Verbrechen in Zürich führte bei diversen Zeitungen zum Griff ins Archiv, konnte aber bald ausgeschlossen werden.
Doch seitdem herrscht Schweigen, und die Hoffnung, den Mord aufzuklären, schwindet. 2031 wird er gemäss aktueller Gesetzeslage verjährt sein.
Ein Leben für das Judentum
Abraham Grünbaum, geboren 1930 in Polen, war ein Überlebender des Holocaust in einem Arbeitslager in Sibirien. Er studierte später den Talmud, zog nach Israel und gründete 1974 eine eigene Talmudschule in Tel Aviv. Grünbaum war ein aktiver Rabbiner. Er reiste unermüdlich, um Geld für seine Schule, aber auch für jüdische Hilfsprojekte zu sammeln. Die Schweiz war nie sein Lebensmittelpunkt. Im Sommer 2001 hielt er sich aber für einen Besuch in Zürich auf.
Es war der 7. Juni 2001 gegen 22 Uhr, als sich Abraham Grünbaum aufmachte, um in einer Synagoge in Wiedikon das Abendgebet zu begehen. Nur einen Tag später wäre er nach Brüssel weitergereist. Dazu kam es nicht mehr. Ein unbekannter Täter feuerte auf offener Strasse zwei Schüsse auf den Rabbiner ab. Zu jenem Zeitpunkt befand sich dieser auf der Weberstrasse beim Hallwylplatz. Die Verletzungen waren zu schwer, um den 71-Jährigen zu retten.
Das Opfer Abraham Grünbaum. (Screenshot: SRF)
Keine Anhaltspunkte, aber eine These
Die Polizei hatte so gut wie nichts. Es gab Augen- und Ohrenzeugen, deren Angaben aber keine nennenswerten Anhaltspunkte lieferten. Das Beobachtete war denkbar dünn: Zwei Schüsse und eine Gestalt, die eilig wegrannte, die aber niemand näher beschreiben konnte. Eher jung, etwa mittelgross, eher dunkle Haare, eher dunkle Kleidung. Nichts daran war wirklich verwertbar. Selbst Bilder einer Überwachungskamera, die den Flüchtenden zeigten, halfen nicht weiter, sie waren zu undeutlich.
Aufschlussreicher war das Ausschlussverfahren: Es lag offensichtlich kein Raubmord vor. Das Opfer trug rund 1000 Franken in einer Aktentasche und weitere Wertsachen mit sich, die unangetastet blieben. Selbst wenn man annimmt, dass es der Täter auf Beute abgesehen hatte und nur darauf verzichtete, weil er sich zur schnellen Flucht genötigt sah: Wann wurde in der Schweiz jemals auf offener Strasse jemand einfach wortlos erschossen, um an dessen Geld zu kommen?
Weil Grünbaum unschwer als orthodoxer Jude zu erkennen gewesen war, rückte schnell die These in den Vordergrund, dass das Motiv Antisemitismus war. Auch wenn sich das bis heute nicht beweisen lässt, wird das Verbrechen allgemein so eingestuft und gilt damit als schwerste antisemitische Gewalttat in der jüngeren Schweizer Geschichte.
Wenn es so war, könnte der Rabbiner aufgrund seiner Religion bewusst ausgesucht, als Person aber dennoch ein «Zufallsopfer» gewesen sein. Im Quartier Aussersihl gab und gibt es eine aktive orthodoxe jüdische Gemeinde. Wer vorhatte, einem Juden Gewalt anzutun, hätte sich für diese Gegend entschieden. Doch ohne auch nur in der Nähe eines konkreten Tatverdächtigen zu sein, bleibt die Frage bis heute offen, ob es um die Person von Abraham Grünbaum ging oder darum, einen beliebigen orthodoxen Juden zu treffen.
Der Tatort an der Weberstrasse in Zürich.
Kaum ein anderes Motiv denkbar
Für jüdische Kreise war schnell klar, dass nur Antisemitismus als Motiv in Frage kam. Die Ermittlungsbehörden konnten es sich nicht ganz so einfach machen, sie mussten in alle Richtungen ermitteln. Aber da gab es nichts Handfestes. Niemand aus dem Umfeld des Mordopfers berichtete von allfälligen Feindschaften oder Rivalitäten, es gab keine zweifelhaften Geschäfte, in die der Rabbiner verwickelt war und die vielleicht ausser Kontrolle geraten waren. Der elffache Vater hatte ein konsequent religiöses Leben geführt und sich ganz seiner Mission verschrieben.
Und dennoch: Es schien der Öffentlichkeit lange Zeit bizarr, dass die Schweiz Tatort eines so sinnlosen Verbrechens aus niedersten Beweggründen geworden sein soll. Tödlich endender Antisemitismus war eine Kategorie, die – glücklicherweise – ungewohnt war und Angst machte. Entsprechend schwer fiel es einigen, diese Möglichkeit zu akzeptieren. Schon bald erschienen in den Zeitungen Chronologien früherer antisemitischer Vorfälle, die mit Gewalt verbunden waren und sichtbar machten, dass es diese schon früher gegeben hatte. In mehreren dieser Fälle kamen die Behörden damals zum Schluss, dass die Täter unter psychischen Problemen gelitten hatten. Von Seiten jüdischer Kreise wurde das als Verharmlosung eines gesellschaftlichen Problems kritisiert, als Versuch, Antisemitismus als Motiv auszuräumen.
Nur der Zufall könnte noch helfen
Nur eine Festnahme im Fall der Ermordung von Abraham Grünbaum hätte zur Klärung des Motivs beitragen können. Aber der einzige halbwegs brauchbare Hinweis auf einen Mann, der sich in der Nähe der israelischen Botschaft seltsam aufgeführt hatte, verlief im Sand, weil der Betreffende für die Tatzeit ein Alibi hatte. Ein Verbrechen, bei dem weder die Tatwaffe noch ein erkennbares Motiv noch stichhaltige Zeugenaussagen vorliegen, ist eine harte Nuss.In solchen Fällen hat die Polizei meist nur noch eine Hoffnung, und die ist leicht makaber: Dass die Tatwaffe später noch einmal eingesetzt wird, verbunden mit einer Festnahme, und sich so Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen lassen. Das ist bis heute nicht geschehen.
Ganz aus der Erinnerung verschwinden wird das ungelöste Verbrechen zumindest in Zürich aber nicht. Dafür sorgen Gedenkveranstaltungen am 7. Juni.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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