Nach dem Beststeller «Der letzte Feind» (2020) präsentiert Giuseppe Gracia mit «Der Tod ist ein Kommunist» ein Buch, das sich liest wie ein vergnügter Fiebertraum. Die Antwort auf den Wahnsinn unserer Corona-Zeit. «Die Ostschweiz» publiziert das gesamte Buch in mehreren Teilen – inklusive Audiofile.
Das Buch kann über den Verlag oder Orell Füssli bestellt werden.
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Kapitel 3
Während seiner Ohnmacht schien Hofstetter erneut vom Alltag im Büro zu träumen: Redaktionssitzung mit Kaffee, Sitzen und Schreiben am Computer, wieder Kaffee, wieder Computer.
Als er das Bewusstsein zurückerlangte, stellte er fest, dass er angezogen im Doppelbett eines Hotelzimmers lag, mit leichten Kopfschmerzen, doch sonst fühlte er sich – ausgeruht?
«Hallo,» sagte Nathalies Stimme.
Die Gegenwart ihres Duftes drang zu ihm, die Ahnung ihrer Haut. Sie sass neben ihm auf dem Bettrand.
«Ich habe dich im Schlaf beobachtet,» sagte sie.
«Schön, das ist wirklich beunruhigend. Ich muss jetzt in die Redaktion gehen. Sonst gibt es Ärger mit dem Chef.»
Nathalie lächelte, und ihre grünen Augen füllten sich mit der Wärme schwärmerischer Verliebtheit. Das, oder es war eine sehr glückliche Droge.
«Mach dir keine Sorgen. Dein Chef wird bald ganz andere Probleme haben, wie die meisten Menschen.»
Er räusperte sich. «Weil die Welt untergeht?»
«Die Menschheit, wie du sie kennst.»
Noch immer lächelte sie. Vermutlich gehörte sie zu einer dieser lächelnden Sekten, die den Untergang der Welt relativ entspannt erwarten. Und vermutlich war sie darauf aus, vor dem Untergang noch ein paar abstruse, halb-sexuelle Praktiken an Hofstetter zu vollziehen, um dann sein Blut zu trinken und ihn ans Bett zu fesseln beziehungsweise umgekehrt.
«Was immer du vorhast, lass es sein,» bat er. «Ich bin zu alt für diese Dinge und habe als Journalist auch eher schlechtes Blut, schlechte Körpersäfte.»
«Ich weiss, es klingt verrückt,» erwiderte sie. «Ich kann es selber kaum glauben. Ich habe mich in dich verliebt, als ich deinen Roman Hinter dem Zitronenbaum las. Verliebt in deine literarische Stimme, in deine Poesie, in deinen Humor. Und in das Autorenfoto auf dem Buchumschlag.»
«Ich habe nie einen Roman geschrieben. Ich habe keine literarische Stimme, keinen Humor und keinen Zitronenbaum.»
«Ja,» erklärte sie. «Du hast den Roman noch nicht geschrieben. Aber in wenigen Jahren wird dich das Buch berühmt machen. Im Jahr 2034 wirst du Preise gewinnen, international. Viele Menschen werden deinen Namen mit grosser Literatur verbinden. Leider wird fast gleichzeitig die Menschheit aussterben.»
Inzwischen war Hofstetter aufgestanden und hatte damit begonnen, sich vom Bett zu entfernen. Rückwärts bewegte er sich zur Tür.
«Ihr kommt aus der Zukunft, nicht wahr? Dein Kollege mit der Brille hat es mir erklärt.»
«Brenner.»
«Genau der. Ihr kommt aus dem Jahr 2055.»
«2075.»
«Richtig.» Hofstetter spürte im Rücken die Tür. Gut. Er drehte sich um und griff nach der Klinke. Nichts.
«Die Tür ist verriegelt,» sagte Nathalie.
«Zweifellos.»
Nathalie, immer noch auf dem Bettrand, senkte den Blick, als müsse sie sich schämen. «Ich habe Brenner gebeten, uns einzusperren. Ich wollte allein mit dir sein. Kannst du mir verzeihen?»
«Natürlich, du bist verliebt. Meine berühmte, literarische Stimme. Mein Zitronenbaum.»
Nathalie erhob sich. Langsam kam sie auf Hofstetter zu, wobei ihm auffiel, wie seidig-sanft ihr kurz geschnittenes Kleid raschelte. Als sie vor ihm stand, nahm sie seine rechte Hand und führte sie an ihre linke Brust.
«Spürst du, wie mein Herz klopft? Wie aufgeregt ich bin?»
«Ja. Auch ich bin jetzt sehr aufgeregt.»
Für einen Moment war es, als würde ihn die alabasterfarbene Wärme ihres Gesichts berühren, mit dem Grün dieser Augen, in denen man versinken konnte. Doch dann sprang plötzlich – klack ! – hinter ihnen die Zimmertür auf.
Ein grosser, kräftig gebauter Mann betrat den Raum. Es handelte sich um den Mercedes-Fahrer, der Hofstetter entführt hatte. Er brachte Essen und Trinken.
Als der Fahrer wieder gegangen war, richtete Nathalie alles her, auf einem Tisch gegenüber dem Bett: Tagliatelle al Salmone, Dom Pérignon Rosé, Tiramisu. Natürlich hätte Hofstetter – als die Zimmertür offen stand – fliehen können, hätte die grösstmögliche Distanz zwischen sich, den Mercedes-Fahrer und das kurz geschnittene Rascheln von Nathalies Kleid bringen können. Doch Hofstetter flüchtete nicht, denn der Fahrer stand im Weg, und er war wirklich sehr kräftig, und er verspürte grossen Hunger (Hofstetter, nicht der Fahrer).
Das Essen schmeckte gut, genau wie der Champagner. Hofstetter konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so gut gegessen und getrunken hatte. Wieder bemerkte er, dass Nathalie lächelte. Wobei es ihm nicht mehr so unheimlich und psychopathisch vorkam. Ja, es kam ihm – während er mit ihr anstiess – immer weniger unheimlich und psychopatisch vor.
Als sie beim Tiramisu ankamen (inzwischen hatte Nathalie eine zweite Flasche Dom Pérignon bestellt), empfand Hofstetter Entspannung. Er lehnte sich zurück und betrachtete die grüne Wärme ihrer Augen. Er fragte sich, ob es wirklich stimmte, dass sie in ihn verliebt war.
Plötzlich fiel ihm auf, dass sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Auch ihre Stimme klang anders, dunkler. «Ich muss dir etwas sagen.»
«Was ist?»
«Du musst es wissen. Dein Freund – er ist in Gefahr.»
«Mein Freund?»
«Der Professor. In der psychiatrischen Klinik.»
«Der Professor? Was ist mit ihm?»
«Er ist in Lebensgefahr.»
Hofstetter fand das absurd.
«Warum sollte er in Lebensgefahr sein, in der Klinik Hobelberg? Das ist die bekannteste Psychiatrie der Schweiz, einem der bekanntesten Länder für Psychiatrien und psychische Störungen.»
«Ja,» erwiderte sie. «Es gibt auch im Jahr 2075 kein besseres Land für psychische Störungen.»
«Siehst du.»
«Trotzdem ist der Professor in Gefahr. Man wird ihn entführen und töten.» Nathalie machte eine dramatische Pause. «Morgen Abend. Wir müssen es verhindern. Wir müssen den Professor retten.»
«Der Professor ist wie ein Vater für mich,» erklärte Hofstetter. «Er hat mich vor der MultiPan-Impfung gewarnt, weil er glaubt, dass sie die Männer unfruchtbar macht und alle Menschen in eine Traumwelt versetzt. Das ist Unsinn, aber er meint es gut! Er liebt die Natur, nimmt keine Drogen, bezahlt seine Rechnungen und wählt grün. Wer sollte ihn töten wollen?»
«Die Kinder der Schlange. Sie wollen sein Herz herausreissen und es in einem Ritual ihrer Göttin opfern.»
«Okay,» erwiderte Hofstetter, «das klingt tödlich.»
«Ich weiss, dass du mir nicht glaubst. Ich würde es auch nicht glauben, wenn ich nicht aus der Zukunft käme.»
Hofstetter fragte sie, warum diese aztekischen Kinderschlangen ein so grosses Interesse am Herz des Professors haben sollten.
«Sind ihnen die Jungfrauen ausgegangen?»
Nathalie ging zum Schreibtisch gegenüber dem Badezimmer, wo ihre Handtasche lag. Sie holte zwei gefaltete, beschriebene A4-Blätter heraus und reichte sie Hofstetter.
«Du erinnerst dich an das Theaterstück, das der Professor geschrieben hat?»
Das Theaterstück? Natürlich erinnerte sich Hofstetter. Es handelte sich um eine misslungene Komödie mit dem Titel «Der Tod ist ein Kommunist». Dieses hatte der Professor nach seiner Pensionierung verfasst. Soviel Hofstetter wusste, hatte er nur dieses eine Stück geschrieben und es niemandem sonst gezeigt. Wie war es möglich, dass Nathalie davon wusste?
«Wie ist es möglich,» fragte er, «dass du davon weißt?»
Nathalie war auf die Frage vorbereitet. «Im Jahr 2075 haben wir die fatale Kette von Ereignissen zurückverfolgt, die zum Untergang von sieben Milliarden Menschen führen werden,» erklärte sie. «Wir haben alle Hinweise auf mögliche Ursachen des Fluchs, der auf der Menschheit lastet, untersucht. Dabei sind wir auf dieses Theaterstück gestossen.»
«Eine misslungene Komödie führt zum Untergang der Menschheit?»
«Wir sind nicht sicher, ob es diese misslungene Komödie war oder eine andere misslungene Komödie.»
«Ja, das Leben ist voll davon.»
«Deswegen brauchen wir dich, Hofstetter. Wir müssen sicher sein, dass wir richtig liegen. Wir brauchen deine Hilfe, um das Theaterstück und den Professor zu identifizieren. Und um sein Herz zu retten.»
Mit einem grazilen, sanften Zeigefinger tippte Nathalie auf die A4-Blätter. «Kannst du es für mich lesen?»
«Das ist nicht das Stück, das sehe ich sofort,» erwiderte Hofstetter. «Alle Werke des Professors umfassen mindestens 285 Seiten exklusive Vor- und Nachwort, Erläuterungen, Werkverzeichnis.»
«Das ist lediglich eine Zusammenfassung,» erklärte sie. «Das Manuskript selber ist verschollen. Wir glauben, dass wir aus den Archiven der Zukunft die Handlung des Stücks rekonstruieren konnten, aufgrund von Aussagen der Kinder der Schlange sowie einem Team aus Historikern und Untergangsforschern.»
Hofstetter gab sich geschlagen.
«Also gut, ich lese es.»
Aber vorher liess er sich Champagner nachfüllen. Dann beugte er sich über die angebliche Zusammenfassung des Theaterstücks.
Ermutigt vom Fortschritt durch Wissenschaft und Technik arbeitet ein geheimes Elite-Team am ultimativen Plan, die Menschheit zu verbessern. Die Völker der Erde sollen ein für alle Mal erlöst werden von Dummheit, Gewalt, Wahnsinn. Ein Supercomputer wird darauf programmiert, erfolgversprechende humanistische Optimierungs-Strategien und Szenarien durchzuspielen. Der Computer analysiert Kulturtechniken sowie politisch-strukturelle Systemfaktoren, die zur Menschheitsverbesserung führen (Demokratie, Wissenschaft, Technologie, Transhumanismus). Der Computer kommt zum Schluss, dass es keine Hoffnung gibt. Sämtliche Errungenschaften der Aufklärung, der angewandten Vernunft und Wissenschaft werden die Menschheit gemäss Berechnungen nicht verbessern. Auch eine globale Zunahme des Wohlstands wird nicht zum Fortschritt der Menschheit führen, sondern lediglich zur globalen Zunahme der Verblödung. Zum Schutz der Natur, des Klimas und aller von der Evolution noch vorgesehenen Lebensformen auf dem Planeten Erde empfiehlt der Computer die baldmögliche Beendigung der Menschheit.
Diese Diagnose ist für das Elite-Team unhaltbar, steht gegen alle humanistischen, kategorisch-imperativen Überzeugungen. Man füttert den Computer mit weiteren Modellen, lässt ihn alles neu durchspielen, immer mehr Varianten und Variablen durchrechnen in Erwartung eines besseren Resultats. Statt zu einem besseren Resultat kommt es jedoch zum Absturz des Computers. Auf dem Bildschirm erscheint ein letzter Satz: «Der Tod ist ein Kommunist». Was hat das zu bedeuten? Einige im Team interpretieren es so: der kommunistische Traum einer besseren, gerechten Gesellschaft ohne Klassenunterschiede ist mit der vorhandenen Menschheit nicht zu verwirklichen. Die Menschen werden nie gerecht sein und nie Lust verspüren, sich gleichwertig zu begegnen. Der einzige, der alle Menschen gleich behandelt, ist der Tod. Der Tod ist der grosse Gleichmacher – und, in diesem Sinn, der einzig wahre Kommunist. Ist es das, was der Computer sagen will? Das Elite-Team ist sehr betroffen und entscheidet, den Computer zu verschrotten.
Eine Person im Team ist jedoch – ohne dass die anderen davon wissen – Mitglied der «Kinder der Schlange», eine bekannte Geheimloge. Diese Loge betet die aztekische Schöpfungsgöttin Coatlicue an (Coatlicue = die mit dem Schlangenrock). Es handelt sich um die Göttin der Erde, der Fruchtbarkeit, der Sterne und der Artenvielfalt: beschützende Mutter und zugleich Rachegöttin gegen alle Feinde des Lebens. Nun wird die Loge über das niederschmetternde Resultat des humanistischen Supercomputers informiert. Die Loge entscheidet, in einem grossen Ritual die Göttin Coatlicue anzurufen. Man möchte um ein milderes Urteil für die Menschheit bitten. Die Göttin ist jedoch gleicher Meinung wie der Computer. Mit einem mächtigen Fluch sorgt sie dafür, dass die Menschen aussterben.
«Ja,» bestätigte Hofstetter nach der Lektüre. «Diese Zusammenfassung ist tatsächlich eine Zusammenfassung.»
«Es umschreibt das Theaterstück, das der Professor verfasst hat?»
«Ja. Bitte reich mir doch die Champagnerflasche. Danke.»
Hofstetter trank. «Ich habe dem Professor gleich gesagt, dass das Manuskript nicht lustig ist. Ich sagte ihm, dass es vielleicht als seriöse, depressive Literatur durchgeht, als philosophische Apokalypse mit antiaufklärerischem Einschlag. Sofern sich in Zeiten von Corona ein Verlag finden würde, der seine Leser zusätzlich verstören will.»
Nathalies grüne Augen waren, während Hofstetter sprach, still auf ihn gerichtet und wurden, je stiller und länger sie auf ihn gerichtet blieben, umso schöner und grüner. Plötzlich flammte eine tiefe Sehnsucht in ihm auf.
«Du bist so schön!» seufzte er. «Du hast mich geküsst mit deinen Lippen! Warum hast du mich geküsst – und entführt – und gefesselt – und gefüttert!»
«Möchtest du noch einen Kuss?»
Natürlich wollte er das. Er wollte das Prickeln des Champagners in ihrem Mund schmecken, wollte alles an ihr schmecken und dann für immer vergessen – ja doch, für immer – wie sie überhaupt hier gelandet waren, die ganze Welt draussen vergessen!
«Du bist betrunken,» sagte sie. «Das ist nicht Liebe.»
«Ich bin stocknüchtern.»
«Also gut,» sagte sie. «Ich werde dich küssen. Ich zeige dir meine Liebe.»
Hofstetter erhob sich, leicht wankend, von seinem Platz. Er wollte zum Bett gehen, doch Nathalie meinte, dass es zuerst noch ein paar Fragen gäbe, die sie klären müssten.
«Das geht schnell», erwiderte er. «Ich habe keine Freundin und keine ansteckende Krankheit. Ich gehe nicht fremd, weil ich keine Gelegenheit dazu habe. Und dann-,» er überlegte. «Ich bin harmlos. Meine Körpersäfte sind total harmlos.»
«Das Manuskript des Professors,» sagte Nathalie. «Ich muss wissen, was du damit gemacht hast. Wo ist es gelandet, nachdem du es gelesen hattest?»
Das blöde Manuskript! Hofstetter wusste nicht, wo es war. Er erinnerte sich, dass der Professor ihn um Hilfe gebeten hatte, bei der Suche nach einem seriösen Verlag. Ja, der Professor hatte ihn gebeten, das Manuskript an den Verlagschef des Zürcher Medienhauses zu vermitteln, für das Hofstetter arbeitete.
«Der Chef deines Zeitungsverlags hat das Manuskript von dir bekommen?»
«Der Verlagschef, ja. Er hat Einfluss in der Kulturszene.»
«Wie heisst er?»
«Waldenroder. Valentin F. Waldenroder.»
Wieder das schöne Grün ihrer Augen. Und wieder das kurz geschnittene Seidenrascheln ihres Kleides.
«Der Verlagschef hat das Manuskript bekommen. Dann hast du nichts mehr davon gehört?»
«Ja,» erwiderte Hofstetter.
«Du weißt nicht, was nachher passiert ist?»
«Ja. Ich meine, nein.»
«Du weißt nicht, wie die Kinder der Schlange in den Besitz des Manuskriptes gekommen sind? Wer das Ritual vorgeschlagen hat, die Entführung des Professors, die Anrufung der Göttin, um sie zu besänftigen?»
«Ja,» wiederholte Hofstetter. «Ich meine, nein.»
Nathalie verstummte.
Hofstetter, etwas schwer geworden, setzte sich aufs Bett. Diese Schlangenkinder oder Kinderschlangen, musste das wirklich sein? Und diese Göttin, wie hiess noch gleich? Wer konnte diesen Unsinn glauben? Hatte der Professor mit seinem Stück vielleicht eine durchgeknallte Sekte dazu animiert, dem Wahnsinn freien Lauf zu lassen?
«Wird das, was im Theaterstück steht, geschehen?» fragte er. «Sind diese Fanatiker real?»
«Morgen gibt es eine Sonnenfinsternis,» erwiderte Nathalie.
Ja, darüber hatte Hofstetter in der Zeitung gelesen, wenn auch nur oberflächlich; Sonnenfinsternisse interessierten ihn nicht, denn in Zürich gab es auch ohne Finsternis kaum Sonne.
Nathalie erklärte es ihm. «Die Kinder der Schlange werden die Sonnenfinsternis nutzen, um das Ritual durchzuführen. Sie werden den Professor entführen, um ihn der Göttin zu opfern. Deswegen sind wir gekommen. Wir sind die Kinder des Lichts. Wir wollen die Geschichte verändern. Wir wollen die Göttin davon überzeugen, dass die Menschheit viele gute Seiten hat und es nicht verdient auszusterben.»
«Das wird hart,» überlegte Hofstetter. «Besonders der Teil mit den vielen guten Seiten.»
«Du magst die Menschheit nicht?»
«Einzelne Exemplare, ein oder zwei Freunde. Aber die Gattung? Die Banker und Autoraser in Zürich könnten locker aussterben, würde niemand vermissen, kein Vogel, kein Baum.»
Nathalie setzte sich zu ihm aufs Bett. «So bist du nicht. Aus deinem preisgekrönten Zitronenbaum-Roman spricht Menschenliebe.»
Hofstetter staunte. «Ich werde mich wohl sehr verändern.»
Sie blickte ihn an, schweigend. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn, schmiegte sich an ihn. Rückwärts liess er sich aufs Bett gleiten, um ganz in den Rosenduft ihrer Lippen zu sinken, in den Geschmack ihres Verlangens, das sich zitternd um seinen Körper schloss. In alle Himmelsrichtungen breitete sich Nathalies Liebe aus, mit dem Rascheln des Kleides, das er für sie öffnen wollte, das aber aus dem Jahr 2075 stammte und über einen digitalen Reissverschluss verfügte, zu bedienen über eine besondere App.
«Warte,» sagte sie und aktivierte die App.
Das Kleid öffnete sich, und sie hauchte ihm ins Ohr, dass sie sich ein Kind von ihm wünsche, dass sie für immer schwanger von ihm werden wolle oder wenigstens für neun gute Monde.
Hofstetter, der alles realisierte, dachte keine Sekunde an drohende Heiratsanträge oder Unterhaltszahlungen, wie so mancher Mann aus dem Jahr 2020 oder 1970 oder auch schon früher. Nein, Hofstetter versank weiter in ihrer Zärtlichkeit.
Ein Kind, dachte er, warum nicht? Und dann dachte er: ein Kind, warum schon? Sodann blickte er in Nathalies Gesicht, in den Smaragdglanz ihrer Augen und hatte keine Fragen mehr. Oder fast keine, denn eine Frage störte doch noch, liess ihn zögern. Warum ein Kind von ihm und nicht von einem Mann aus Nathalies Zukunft? Bestimmt hatte sie viele Verehrer.
«Nur du kannst es sein,» flüsterte sie. «Die Männer aus meiner Zeit sind unbrauchbar. Sie haben keine Lust auf Kinder und sind unfruchtbar.»
«Wie schrecklich,» stöhnte er.
«Sie wollen nur Spass. Nur langen, schamlosen Sex. Ohne Verantwortung.»
«Schweine,» stöhnte er.
«Im Jahr 2075 sind Männer Egoisten und Onanisten,» flüsterte sie.
«Unvorstellbar,» flüsterte er.
Er hielt die Augen geschlossen. Noch nie hatte er so etwas erlebt oder geahnt, dass eine Frau wie Nathalie ein Kleid mit elektronischem Reissverschluss haben könnte. Bei Frauen hatte Hofstetter nie Glück gehabt, und eigentlich auch nicht bei Männern. Ja, nicht einmal beim Lottospielen. Eine esoterische, krankhaft positive Ex-Freundin und ein alkoholisierter One-Night-Stand während einer Bundesratswahl in Bern: das waren sie gewesen, die Höhepunkte der letzten Jahre, als Journalist der unteren Kaderstufe. Eigentlich war es ihm nie widerfahren, dass Frauen sich aktiv für ihn interessiert und versucht hätten, ihn zu verführen. Im Gegenteil hatte er sich daran gewöhnt, Frauen nur aus der Ferne zu bewundern, besonders schöne Frauen, und ganz besonders schöne Frauen im Doppelbett eines schönen Hotels, das viel zu schön war, um wahr zu sein.
Und ja, es war dieser schreckliche Gedanke, der ihn plötzlich packte. Der Gedanke, dass er hier mit Nathalie gerade etwas erlebte, das er gar nicht wirklich erlebte. Hofstetter musste an den Professor denken. Er musste an das denken, was er ihm in der Klinik Hobelberg gesagt hatte. Er hatte ihm gesagt, dass er sich auf keinen Fall mit MultiPan impfen lassen dürfe, weil er sonst in eine Traumwelt abgleiten werde. Er hatte gesagt, der Impfstoff werde «biochemische Illusionen» im Gehirn auslösen. Illusionen, die Hofstetter das Gefühl geben würden, Interessantes und Erregendes zu erleben. In Wahrheit aber werde er sich alles nur einbilden.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Auschlöschung» (Fontis Verlag, 2024) handelt von der Selbstauflösung Europas.
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