Roger Guntern managt den Mann der Stunde: Der Appenzeller Marius Bear wird die Schweiz am Eurovision Song Contest Mitte Mai in Turin vertreten. Wie das soweit kam und was diese einmalige Chance für ihn und den Sänger bedeutet, darüber spricht er im Interview.
Hallo Roger, wie viel Champagner hast du auf die freudige Nachricht, dass Marius Bear die Schweiz am ESC in Turin vertreten darf, getrunken?
Wir wissen ja schon seit Weihnachten, dass Marius das Auswahlverfahren für sich entschieden hat. Eine Flasche haben wir in der Zwischenzeit schon gemeinsam getrunken.
Erzähl und gewähr uns einen Blick hinter die Kulissen: Wie läuft so ein Nominierungsverfahren ab?
Es gab eine öffentliche Ausschreibung. Marius hat bis Mitte September vier Songs eingereicht. Eine Fach- und eine Publikumsjury hat die gut 400 eingeschickten Songs in mehreren Runden bewertet. Irgendwann kam dann mal die Nachricht, dass es «Boys do cry» in die Top 5 geschafft hat und dass Marius nun zum Vorsingen antraben musste. Ja und da hat er dann seine Konkurrenz ausgestochen.
Wie hast du auf die Frohbotschaft reagiert?
Sie haben mich aus Jux zuerst etwas hingehalten und so getan, als hätte es Marius nicht geschafft. Das Gleiche habe ich dann auch bei Marius versucht, konnte es aber nur etwa sieben Sekunden aushalten, bis es aus mir rausgeplatz ist. Wir haben uns so gefreut! Während der Pandemie haben wir uns von Sofa zu Sofa angerufen und diesen und jenen Auftritt absagen oder verschieben müssen. Dass wir jetzt am ESC teilnehmen dürfen, das ist ein richtiger Energieschub.
Und wie hat Marius reagiert?
Riesige Freude auch bei ihm: Jetzt geht es weiter und zwar so zünftig. Ich habe ihn im Vorfeld gewarnt: Du machst es nicht nur für dich, du macht so etwas für das ganze Land. So ein ESC ist nicht einfach ein Bear-Konzert, sondern du bist Teil einer der grössten TV-Shows der Welt. Wenn du vorne dabei bist, mögen dich alle. Wenn du schlecht abschneidest, kann das auch unangenehm sein.
Wie ist denn der Song «Boys do Cry» entstanden?
Marius sagte bereits vor einem Jahr, dass sein nächstes Album so heissen werde. Den Song dazu gab es noch gar nicht. In dieser ruhigen Coronazeit hat er sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Marius ist ein emotionaler Mensch und immer einer der ersten, der nasse Augen kriegt. Gemeinsam mit dem in Berlin wohnhaften kanadischen Musiker Martin Gallop hat er dann den Song geschrieben.
Was sind die Stärken und was die Schwächen des Songs?
Ich finde den Song wunderschön. Nach zwei-, dreimaligen Hören wird er immer stärker. Das Lied wächst mit und an einem. Ich finde, der Song bleibt die ganze Zeit in seiner Stimmung, ich glaube Marius jedes Wort, das er singt, weil er selbst genau weiss, was er singt.
Es gibt Leute, die sagen, der Song sei langweilig.
Eben: Der Song geht vielleicht nicht so schnell ins Ohr. Viele der heutigen Lieder arbeiten 25 Sekunden auf den hörgefälligen Refrain hin und das war’s dann. «Boys do cry» ist das genaue Gegenteil davon und darum überhaupt nicht langweilig!
Wie bereitest du Marius und dich selbst auch den 10. Mai vor?
Uff… wir haben viel zu tun. Für das Staging – das heisst, wie der Song vorgetragen wird – hat SRF eine Artistic Director in Schweden engagiert. Jede Lampe, jede Kameraführung und jede Bewegung auf der Bühne werden genau definiert. Für uns heisst das: proben, proben und nochmals proben. Für das Outfit sind zwei junge Designer aus Neuenburg verantwortlich, zudem trudeln pro Tag zirka zehn Anfragen für Interviews rein und wir geben gleichzeitig noch ein Album heraus und sind auf Tournee…
Ist eine ESC-Nomination auch für den Agenten so was wie ein Ritterschlag?
Absolut. Wie gesagt: Das sind die Olympischen Spiele der Musik. Der ESC ist das Grösste, was ich jemals gemacht haben werde und auch für mich wird ein Traum wahr.
Man munkelt ja, dass die Ukraine den ESC gewinnen wird. Nicht unbedingt wegen des Liedes, sondern aus Solidarität mit dem kriegsgebeutelten Land. Unter diesen etwas unfairen Voraussetzung wäre ja ein zweiter Platz auch zufriedenstellend, oder?
Wenn die Ukraine gewinnt, dann hat sie es auch verdient. Es ist ja nicht so, dass die Ukraine jeweils mittelmässige Musik präsentierte und jetzt unverdient gewinnen würde. Seit sie mitmacht (Anm. Red. 2003) hat die Ukraine den Wettbewerb schon zweimal gewonnen. Die Beiträge sind immer gut und originell. Die Solidarität mit der Ukraine soll man nicht werten, sondern spüren. Aber es sind ja derzeit vor allem die Wettbüros, die auf die Ukraine setzen. Das ist alles Spekulation. Wer weiss jetzt, was im Mai sein wird.
Was hältst du eigentlich vom Zuschauervoting?
Ich finde es gut, dass es das Zuschauervoting gibt. Gut ist aber auch, dass es nur 50 Prozent zählt und die anderen 50 Prozent von einer Fachjury bewertet werden. Wir alle sollen Teil des ESC sein und darum ist das Zuschauervoting wichtig und richtig.
Hand aufs Herz: Welchen Platz erhoffst du dir realistischerweise für Marius?
Jeder Platz ist realistisch. Ich sehe Marius entweder ganz oben oder ganz unter, aber nicht im Mittelfeld. Ich bin keiner, der findet: Hauptsache mitmachen. Wir machen alles, damit wir weit vorne sein werden.
Für wen wirst du anrufen?
Für Italien. Das ist eines der schönsten Lieder, das ich in den letzten Jahren gehört habe.
Und was, wenn Marius gewänne?
Fakt ist: Jeder ESC-Teilnehmer hat nachher mehr Publikum als er vor seiner Teilnahme am Wettbewerb gehabt hat. Marius und die Band sind parat: Wir sind derzeit auf Tournee und können nahtlos anhängen und dorthin gehen, wo immer Marius gebucht wird.
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.