Unterhalter wie der Zirkus Knie müssen sich alljährlich wieder selbst übertreffen. Die Gefahrenspirale dreht sich nach oben in luftige Höhen. Ich sehnte mich dabei nach blutiger Entspannung mit Steven Spielbergs Hai.
Wir alle sind inzwischen ziemlich abgehärtet. Im Kino löst ein auf einen Menschen zurollender Stein («Indiana Jones») heute kein Staunen mehr aus. Da muss inzwischen schon mindestens die halbe Welt explodieren.
Setzte ein Event wie der ESC früher noch einzig auf die Musik, so benötigt es heute eine Bühnenshow, bei der entweder einer der Künstler nackt herumrennt oder aber die Chance besteht, dass ein Sänger von einer rotierenden Drehscheibe fällt.
Es gibt da nur ganz wenige Ausnahmen von Inszenierungen, die auch heute noch begeistern. Unter anderem Spielbergs «Der weisse Hai». Ich weiss das, weil ich den Streifen kürzlich mit meiner Tochter angeschaut habe. Die KESB darf bei mir antraben. Meine Tochter ist noch zu jung für den Film. Ich habe sie vorgewarnt. Sie meinte, wegen der gefährlichen Szenen eher lachen zu müssen. Das war dann letztlich aber doch nicht der Fall. Mich hat das irgendwie gefreut.
Mit derselben Tochter besuchte ich auch die Vorstellung im Zirkus Knie. Und ich kann klar sagen: Bezüglich Schockfaktor schlägt der Zirkus den Hai um Längen.
Eigentlich kein Wunder. Denn auch ein Zirkus kann heute nicht mehr überleben, wenn er versucht, Publikum mit Jongleuren, niedlichen Pferden und einem Zauberer anzulocken. Da fehlen dann die ganz grossen «Ahhs» und «Ohhs».
Ich jedenfalls verliess die Vorstellung mit einer ordentlichen Verspannung. Als Mensch mit Höhenangst kann ich es nicht nachvollziehen, weshalb sich Artisten freiwillig oben am Zirkuszelt von einem Ring zum anderen schwingen und sich lediglich mit der Fussspitze vor einem Absturz retten. Verdammt faszinierend. Aber auch verdammt gefährlich.
Bei der Premiere in St.Gallen kam es bei der finalen Darbietung denn auch zu einem kurzen Schreckmoment, als einer der Artisten beinahe den Halt verlor. Ob das nun zur Show gehörte oder nicht, ist letztlich eigentlich irrelevant.
Mir stellte sich dabei die Frage, welche Risiken man heute bereit ist einzugehen, um Zuschauer anzulocken. Und ob es in der Schweiz, in der alles reguliert ist, hierzu gesetzliche Vorschriften gibt.
Bei allen Bereichen wollte sich Ilona Hutmacher, Medienverantwortliche beim Zirkus Knie, dann doch nicht in die Karten blicken lassen.
«Wir hatten bisher zum Glück keine schwerwiegenden Unfälle bei uns im Zirkus Knie. In seltenen Fällen können kleinere Blessuren auftreten, was einfach zum Risiko des Berufs gehört. Die Risiken sind vergleichbar mit denen im Hochleistungssport. Alle Artisten sind Profis auf ihrem Gebiet und wissen genau, was sie tun», so Hutmacher.
Und nein, gesetzliche Bestimmungen gäbe es in diesem Zusammenhang nicht. Die Verantwortung liegt bei den Artisten. Diese würden selbst über den Inhalt ihrer jeweiligen Darbietung entscheiden.
«Natürlich ist der Druck gross, jedes Jahr eine spannende Show zu kreieren. Dabei geht es aber nicht darum, das Risiko herauszufordern, denn die Sicherheit der Artisten steht immer an erster Stelle. Letztlich möchten wir dem Publikum Glücksmomente schenken und es verzaubern», erklärt Ilona Hutmacher weiter.
Klar ist letztlich aber auch, dass nicht nur für die Artisten ein Risiko besteht. Sollte es zu einem tragischen Umfall kommen, könnte auch die Existenz des Zirkus’ gefährdet sein.
Mit meiner Tochter sass ich bei der Darbietung in der ersten Reihe. Es gab den einen Moment, in dem ich es förmlich vor mir sah, wie ein Künstler zwei Meter vor uns auf den Boden fällt. In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte entspannt und mit ruhigem Puls auf dem Sofa liegen und dem Hai zusehen, wie er einen der Hauptdarsteller verspeist.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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