Verschwörungstheorie oder Wahrheit? Rächen sich die Konstanzer an den Schweizer, die ständig ihre Stadt verstopfen?
Es war der makabre Schlusspunkt an diesem eiskalten Wintertag: Der genervte ältere Schweizer Zöllner jagte mich von der sonst freigegebenen Spur: «Wer hier parkt, wird gefilzt!», eine Kampfansage nun auch von unseren Beamten, die sich offenbar mit ihren deutschen Kollegen solidarisiert hatten. Er sorgte eifersüchtig dafür, dass nur eine einzige Spur bei der Ausreise offen blieb, anstelle der problemlos möglichen drei. Damit verstärkte er vorsätzlich den immer länger werdenden Stau, der schon mitten in der Altstadt von Konstanz begonnen hatte. Wo man sonst zehn Minuten bis zur Grenze braucht, waren provisorische Sperrschilder aufgestellt, nicht von der Polizei, sondern von Verkehrskadetten, die sich hinter ihren Fahrzeugen versteckten, um nicht den aggressiven Fragen der Autofahrer ausgesetzt zu sein, denn es gab nirgends irgendeine Information, was hier los war. Der sich mit «den schnellsten Staumeldungen» rühmende Radiosender hatte nur einen streunenden Hund zu melden. Ein nächstes vergammeltes Schild verrammelte die nächstmögliche Zufahrt. Stop and go nun schon auf fünf Kilometer.
Phantasien drängten sich auf: Hatte der Stadtrat eine Racheaktion gegen die ständig die Stadt verstopfenden Schweizer ausgeführt? Oder streikten die deutschen Zöllner, weil sie sich als Stempel-Sklaven für Ausfuhrscheine degradiert fühlen? Egal warum, es gab keine Infos, was hier passierte. Hoffnung kam am nächsten Kreisel auf, wo es nur noch zwei Kilometer zum Zoll wären, doch anstatt links, wurden alle nach rechts, weg von der Grenze geleitet, Kilometer über Kilometer weg ins Konstanzer Hinterland. Das war reine Schikane, bewusst und gemein, also Rache. Ortsunkundige fuhren nun sinnlos Richtung Berlin, nirgends war, wie bei uns zuhause, ein Umleitungsschild zu sehen. Als Velofahrer kannte ich von früher einen halblegalen Weg, kehrte dort um und absolvierte mühsam langsam die letzten fünf Kilometer. Plötzlich stieg aus dem Leihwagen vor mir der Fahrer aus, stellte sich als Portugiese auf dem Weg zum Flughafen Zürich vor und verzweifelte, als er hörte, dass es mit dem letzten Flug nach Porto in einer Stunde nicht mehr klappen könnte:«„Ich muss dort morgen früh die Konferenz mit badischen Managern eröffnen!» Pech gehabt, Konstanz hat sich diese Chance im Ausland selbst verwirkt.
Mittlerweile wurden wir von Einheimischen am Strassenrand begafft, einige boten Wasser an, andere klatschten Beifall. So muss es gewesen sein, als 1945 die Franzosen die Stadt befreiten. Wir zwangsweise zusammengepferchten Schweizer Autofahrer aber wollten raus und mussten nochmals endlos warten.
Endlich, nach über zwei Stunden sinnlosem Stau, atmeten wir freie Schweizer Luft und noch freiere Strassen. Der Zöllner, der uns filzen wollte, beobachtete uns noch misstrauisch bis zur nächsten verbotenen Abzweigung. Er fühlte sich sichtbar wohl in seiner destruktiven Aufgabe in diesem internationalen Kleinkrieg.
Muss ab diesem Tag die Geschichtsschreibung geändert werden und ein Ende der Friedenszeit in der Schweiz notiert werden? Oder wenigstens ein freiwilliges Näherrücken an EU und NATO?
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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