Wir sollten uns nicht über Einkaufstourismus beklagen. Wir sollten etwas tun. Ohne neue Gesetze.
Der Thurgau macht ernst. Mit einer Standesinitiative soll die sogenannte Wertfreigrenze im Einkaufstourismus fallen. Das würde heissen: Man kann nach der Shoppingtour im Ausland weiterhin die ausländische Mehrwertsteuer zurückfordern. Gleichzeitig muss man dann aber die Schweizer Mehrwertsteuer berappen. Denn schliesslich, so die Vorstösser, haben die Schweizer Zollbehörden einen Mehraufwand, und der muss vergütet werden. In Tat und Wahrheit soll aber ganz einfach den Einkaufstouristen der «Seitensprung» unattraktiv gemacht werden.
Das ist durchaus kreativ. Man wünschte sich, der Einfallsreichtum der Politiker wäre auch so gross, wenn es darum geht, den Steuerzahler zu ent- statt belasten. Aber das Problem liegt tiefer.
Verzeihung für den Vergleich, aber er muss sein. Als die Führung der DDR in den frühen 60ern dafür sorgen wollte, dass die Bevölkerung nicht weiter abwandert, appellierte sie zunächst an deren Heimatgefühl. Als das nicht fruchtete, baute sie eine Mauer und sperrte das eigene Volk ein. In der Debatte um den wachsenden Einkaufstourismus hat man bisweilen den Eindruck, dieser Schritt stehe uns kurz bevor. Konkret im Gespräch sind Massnahmen, wie man das Einkaufen über der Grenze für Schweizer unattraktiver machen kann. Die Mauer wird uns erspart bleiben. Aber was angedacht ist, reicht schon. Weil es der falsche Ansatz ist. «Das da draussen» unattraktiver zu machen, um selbst attraktiver zu wirken, das ist ein Fehlschuss.
Hausaufgaben machen
Wer feststellt, dass ein Mitbewerber mehr zu bieten hat als man selbst, sollte nicht darüber nachdenken, wie man das andere Angebot sabotiert, sondern darüber, was man selbst zu bieten hat. Der Preisvorteil, den Schweizer in Süddeutschland und Vorarlberg suchen und finden, ist eine Tatsache, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, je nachdem, was der Euro macht. An Faktoren wie Zoll und Mehrwertsteuer herumzuschrauben, ist protektionistischer Aktivismus, der vielleicht das Problem leicht dämpft, aber nicht löst. Der Schweizer Detailhandel jubelt natürlich über jede solche Massnahme. Sie spielt ihm in die Hände. Es entbindet ihn aber nicht von der Pflicht, die eigenen Hausaufgaben zu machen.
Über die Grenze in die Schweiz kommt man, um zu arbeiten, weil die Löhne hoch sind, aber nicht für ein Erlebnis oder den Einkauf, weil die Preise ebenfalls hoch sind. Aber wir sind nicht nur deshalb unattraktiv für den schnellen Besuch. Wir sind auch nicht auf den kurzzeitigen Besucher ausgerichtet. Wenn die Ostschweiz Menschen aus dem grenznahen Ausland anspricht, ist sie auf Touristen für einen Tagesausflug oder ein Wochenende aus. So verkaufen wir uns, und das bekommen wir in der Konsequenz. Wir haben akzeptiert, dass kein Lustenauer mal eben nach St.Gallen fährt und kein Konstanzer Kreuzlingen kurz besucht. Und wir jammern, dass alles in die andere Richtung geht.
Unterscheidung suchen
Massenströme, die bei uns den Kofferraum füllen, werden wir nie haben. Dafür haben wir die falsche Preisstruktur. Aber es gibt im nahen Ausland durchaus viele Leute, die den Fünfer nicht zwei Mal umdrehen müssen und Qualität schätzen. Sie kommen allerdings nur, wenn sie das Gefühl haben, für Fahrt und höhere Preise einen entsprechenden Mehrwert zu erhalten. Wenn an derselben Markenjacke ein Preisschild mit einer höheren Summe hängt, ist die Entscheidung klar. Der Weg führt deshalb über die Unterscheidung.
Nehmen wir das «Lädelisterben» in St.Gallen. Wird eine Fläche frei, gibt es oft nur eine Hoffnung: Eine der internationalen Modeketten möge sich unserer erbarmen und einen Ostschweizer Ableger gründen. Ist die Fläche wieder gefüllt, atmen wir auf. Aber für wie lange? Tatsache ist doch: Was in diesen Fällen verkauft wird, ist punkto Angebot rund um den Erdball weitgehend identisch – aber bei uns sehr viel teurer als im Ausland. Entsprechend wird niemand die Reise zu uns dafür unter die Räder nehmen, und die eigenen Leute wiederum fahren lieber ins nahe Ausland, wo sie dasselbe für den halben Preis bekommen. Dass das nicht funktionieren kann, leuchtet jedem ein, ändern tut es nichts.
Keiner versucht es
«Swiss» ist eine international anerkannte Marke. Und es gibt vieles, um das uns die Nachbarn beneiden. Die Vorarlberger beispielsweise wären nachweislich gerne St.Galler. Sie haben also keine grundsätzliche Abneigung gegen uns und würden uns wohl gerne dann und wann besuchen. Wir machen es ihnen ganz einfach nicht leicht damit. Wir bieten ihnen keine herausragenden Erlebnisse und Gelegenheiten für eine Stippvisite. Beziehungsweise: Wir hätten sie, aber wir versuchen gar nicht erst, sie bekannt zu machen und damit zu landen. Wir umwerben Asiaten, buhlen um Feriengäste für Alpstein, preisen die Stiftsbibliothek bei Touristen an, die ohnehin schon hier sind. Hat sich eine der unzähligen Standortförderungs- und Tourismusorganisationen der Region schon jemals Gedanken darüber gemacht, wie man die Pendlerflut der Einkaufstouristen in die andere Richtung lenken könnte? Kaum. Weil es als unmöglich gilt. Und weil man lieber den eigenen Leuten das Ausland madig macht statt dem Ausland die Ostschweiz zu verkaufen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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