Als in Asien die ersten Staaten bereits die Pandemie unter Kontrolle hatten, zögerte die Schweiz, zögerte Europa noch mit Massnahmen. Teil 2 der Serie von «Die Ostschweiz»
Am 3. März hatte China, hatte die betroffene Provinz die Pandemie völlig unter Kontrolle; zwei Wochen, bevor in der Schweiz die ersten drastischen Massnahmen ergriffen wurden. Zwei Faktoren waren in China entscheidend: schnelle und massive Reaktion am Anfang, flächendeckende Quarantäne. Dann Testing und Tracing, Massentests und Verfolgung der Ansteckungswege. In der bis heute lesenswerten Auswertung durch den Analysten Tomas Puyeo vom 19. März listet er in einer Tabelle auf, welche Massnahmen in welchen Ländern wie früh ergriffen wurden. Und womit für Versäumnisse später bezahlt werden musste. Nämlich mit Toten und wirtschaftlichen Milliardenschäden.
Nachdem sich der Bundesrat am 16. März endlich zu Handlungen aufgerafft hatte, twitterte Salathé nach einem Treffen mit Gesundheitsminister Berset, BAG-Beamten und Fachwissenschaftlern in Bern am 18. März: «Mein Vertrauen in die Politik ist total erschüttert. Total veraltete Prozesse.» Bei der Aufarbeitung werde «kein politischer Stein auf dem anderen bleiben». Die Etappe zwei dieses Systemversagens begann.
Was ist schiefgelaufen? Das, was die Motion von 2009 (siehe Teil 1) auf den Punkt brachte: Es gab und gibt kein zentrales, hierarchisch aufgebautes Krisenmanagement. Sondern es gibt ein Flickwerk von Krisenstäben, die in komplizierten Organigrammen strukturiert werden sollen. Das riecht nach Desaster, das ist ein Desaster. Zunächst hat jedes Amt seinen eigenen Krisenstab. Beispielsweise das für die Wirtschaft zuständige SECO. Das für die Gesundheit zuständige BAG. Das Amt für Bevölkerungsschutz. Der Zivilschutz. Die Armee.
Gar noch nicht erwähnt haben wir das BHG, EKP, EKiF, Swissmedic, KSD, GDK und SANKO. Und dann wären natürlich im föderalistischen System noch die Kantone, die auf ihre Souveränität auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise im Schulwesen oder in der Umsetzung von Kontaktverboten, pochen.
Aber das ist noch nicht die ganze Misere. Einerseits, die Schweiz ist modern und auch bei IT weltweit führend, liegen elektronische Lagedarstellungen vor. Hier können mit verschiedenen Layers die unterschiedlichen Auswirkungen einer Krise auf die Bevölkerung, die Versorgung, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen usw. simuliert und übereinandergelegt oder separiert werden. Auf der anderen Seite liegt in einem Lageraum der Armee eine grosse Schweizerkarte am Boden. Auf der symbolisieren gelbe Klötzchen die Standorte von Sanitätseinheiten.
In diesem Kompetenzwirrwarr und den nebeneinander existierenden Welten von moderner Digitaltechnik, Klötzchen schieben wie im Zweiten Weltkrieg und Faxe mit Meldungen über Infizierte verschicken, versanden auch immer wieder gemachte Versuche, Versäumnisse anzumahnen und Abhilfe zu fordern. Stattdessen wird ein Wachkoma über Wirtschaft und Gesellschaft verhängt. Damit lassen sich aber die Versäumnisse in den ersten zweieinhalb Monaten nicht mehr ausbügeln.
Die Schweiz führt regelmässig Planspiele durch, damit die Landesführung auf Krisen vorbereitet ist. 2014 wurde eine Sicherheitsverbundsübung (SVU14) mit dem Bedrohungsszenario «Pandemie» durchgeführt. Die Ergebnisse sind öffentlich einsehbar, aber offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden. Seit Mitte Dezember 2018 liegt ein ebenfalls öffentliches Gutachten über den künftigen Bedarf eines koordinierten Sanitätsdienstes mit einer Auflistung von Verbesserungspotential vor, z.B. Intensivplätze, Versorgungsengpässe bei Medikamenten. Es liest sich wie eine vorweggenommene Aufzählung aller Fehler und Versäumnisse in der aktuellen Pandemie.
Seit dem November 2019 liegt der neuste Bericht zur Vorratshaltung vor. Dort wird unter anderem auf die mangelnden Lagerbestände bei Masken oder bei Desinfektionsmitteln hingewiesen. Und schliesslich gibt es den alle zwei Jahre aufdatierten Pandemieplan des Bundes.
An Planungen und an Mahnungen hat es nicht gefehlt. Wie ist dann zu erklären, dass zu viele der ausgearbeiteten Massnahmen von den ersten Anzeichen einer Pandemie an bis zum schlagartigen Lockdown am 16. März unterlassen wurden? Wie kann es sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt banale Dinge wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, aber auch Beatmungsgeräte fehlen? Obwohl das mehrfach bemängelt und Abhilfe angemahnt wurde?
26.12. 2019: Dr. Jixihan Zhan diagnostiziert vier ungewöhnliche Pneumonie-Fälle, davon drei in der gleichen Familie, und informiert die Gesundheitsbehörden am nächsten Tag.
30.12. 2019: Nach weiteren Fällen beginnen die Gesundheitsbehörden in Wuhan, aktiv nach Erkrankten zu suchen.
31. 12. 2019: Die nationalen Behörden in China und die WHO werden informiert.
7.1. 2020: Covid-19 wird identifiziert, am 12. Januar wird seine Genom-Sequenz veröffentlicht.
13.1. 2020: Die ersten Test-Kits sind in China erhältlich.
23.1. 2020: Wuhan wird unter Quarantäne gestellt, am nächsten Tag 15 weitere Städte, dann die ganze Provinz mit 60 Millionen Einwohnern.
30.1. 2020: Die WHO erklärt den globalen Gesundheitsnotstand.
Bis zu diesem Datum bestand die einzige sichtbare Reaktion der Schweizer Behörden und des Bundesrats in einer ersten Pressekonferenz am 28. Januar mit dem Gesundheitsminister Alain Berset und dem BAG-Zuständigen Daniel Koch. Koch behauptete fälschlicherweise, es gebe noch keine Fälle ausserhalb Chinas.
«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.