Die Schweiz fährt weiter auf ihrem Kurs der evidenzlosen Politik. Inzwischen benötigt der Bundesrat für die Verschärfung von Massnahmen nicht einmal mehr den Hauch von Nachweisen für Gefahr und Wirksamkeit. Annahmen reichen. Das auf Kosten der Gegenwart - und der Zukunft.
Kulinarik, Kultur, Freizeit, Sport: Braucht kein Mensch. Und das auf lange Sicht. Der Bundesrat gedenkt, den Teillockdown mit der Gastronomie und den Eventveranstaltern als Hauptbetroffenen bis Ende Februar weiterzuführen. Gleichzeitig spielt er bereits mit dem Gedanken, den Frühling 2020 zu repetieren, indem er auch die Läden wieder schliesst. Das die wichtigsten Punkte einer Art Vorab-Drohwarnung, die Gesundheitsminister Alain Berset schon einmal deponierte, bevor er sich mit den Kantonen kurzschliesst. Die sind zur Mehrheit bereits zu Schosshündchen mutiert und werden, wenn überhaupt, nur symbolischen Widerstand leisten.
Die Grundlage für die Verlängerung der einschneidenden Massnahmen? Nicht etwa neue alarmierende Zahlen. Die Fallquote sinkt eher, was aber natürlich nur daran liegt, dass man nicht fleissig genug getestet hat. Sprich: Wird viel getestet, sind die Zahlen hoch, und man muss etwas tun. Sind die Zahlen tiefer, liegt das an zu wenigen Tests, und man muss etwas tun.
Man muss demnach einfach immer etwas tun. Die Welt ist sehr einfach geworden.
Etwas ist ein passender Begriff. Der Bundesrat tut irgendetwas. Die Gastronomie ist ohnehin schon waidwund geschossen und wehrt sich längst nicht mehr wirklich gegen die Schliessung, man will einfach Geld dafür sehen. Irgendwie verständlich, irgendwie auch nicht. Jedenfalls wählt die Landesregierung das leichteste Opfer. Dass es sich dabei um eines handelt, das wie keine andere Branche alle geforderten Schutzmassnahmen umgesetzt hat und zu keinem Zeitpunkt eine Brutstätte des Virus war, spielt dabei keine Rolle. Es geht um die Vorspiegelung frenetischer Aktivität, um das Vortäuschen echter Handlungen, um die Fortsetzung des Drehbuchs. Das wird übrigens auch der Fall sein, wenn die Geschäfte wieder zugehen. Auch die spielen keine wirkliche Rolle bei der Verbreitung von Corona. Aber man will die Menschen ganz einfach von der Strasse haben. Koste es, was es wolle - wortwörtlich.
Fast schon bewundernswert, wie der Bundesrat nebenbei in kurzen Abständen seine Strategie ändert. Zunächst wollte er die Kantone belohnen, die tiefe Fallzahlen aufweisen, indem er ihnen die längere Leine lässt. Davon rückt er nun ab. Er verkauft das als einheitliche Linie im ganzen Land. Das kann man machen, aber nicht auf der gegebenen Grundlage, die da heisst: Es gab keine negative Entwicklung in den letzten Wochen, im Gegenteil. Aber das reicht eben nicht. Offenbar hat die Landesregierung auf eine Art biblisches Wunder über die Festtage gehofft. Inzwischen reicht nicht mal mehr ein Rückgang der Zahlen zur Beruhigung, die Situation ist einfach immer schlecht laut Alain Berset. Jedenfalls laut seinen Annahmen, er kann sich ja nicht mal mehr auf Zahlen abstützen, und auch die waren stets fragwürdig. Vermutlich wäre die Situation auch noch schlecht, wenn der letzte Virusträger ein Einsiedler in einem Wald im Berner Oberland wäre.
Provisorisch klären unsere sieben Bundesräte bei den Kantonen auch gleich ab, wie es denn mit weiteren Verschärfungen aussehen würde. Das ist eine reine Show, es wird ohnehin getan, was die Landesregierung aufgrund ihrer Task-Force-Einflüsterer und inspiriert von den meisten Medien tun will. Dass die Kantone da mitspielen, ist unfassbar. Brav werden sie ihre Stellungnahme zur Konsultation abgeben, im Wissen, dass es nichts ändert. Eine Kantonsregierung mit Rückgrat würde da sagen: Danke, aber nein danke.
Übrigens figuriert unter den weitergehenden Massnahmen - und erst dort! - auch der erhöhte Schutz besonders gefährdeter Personen. Also so ziemlich der einzige Schritt, der überhaupt Sinn macht, den man schon vor Monaten in aller Entschiedenheit hätte vorantreiben müssen. Wenn das Virus in Altersheimen besonders stark wütet und Todesopfer fordert, ist es eine logische Massnahme, solche Institutionen zu schützen. Nicht mit totaler Abschottung, aber mit klarer Kontrolle und Regeln. Der Bundesrat dünnt hingegen lieber die Gastrolandschaft Schweiz aus und macht Kulturveranstalter und Künstler arbeitslos, statt das Offensichtliche zu tun.
Apropos: Die Verlängerung des Teillockdowns um fünf Wochen verkaufen Berset und Co. als «Planungssicherheit». Wenn die Beizer wissen, dass sie nun bis Ende Februar Däumchen drehen (und Miete bezahlen) dürfen, können sie besser planen. Völlig korrekt. Genau so wie jemand totale Planungssicherheit hat, wenn er seinen Job verliert: Er weiss, dass er die nächsten Monate Bewerbungen schreiben darf. Planungssicherheit hat man auch, wenn man vom Arzt die Diagnose erhält, dass man nur noch sechs Monate zu leben hat. Ob man das möchte?
Einen organisierten Ruin als Planungssicherheit bezeichnen kann nur, wer fix besoldet in einem Designerbüro im Zentrum von Bern residiert. Und dort übrigens eine nach wie vor offene Restauration hat.
Und das alles, man muss es wirklich betonen, tut dieser Bundesrat nur für uns und unsere Gesundheit. Die Gesundheit der über 99 Prozent der Menschen im Land, denen dieses Virus kaum etwas anhaben kann. Vielleicht wäre es wirklich einfach mal an der Zeit, ganz laut «Danke» zu sagen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.