logo

Replik

Staatlich erzwungene Kinder sind nicht libertär

Der Jurist Artur Terekhov tarnt Altmänner-Konservatismus als Libertarismus. Dabei verstrickt er sich argumentativ und ideologisch in Widersprüchen. Eine Replik auf ein Plädoyer, das den Eindruck eines wenig schmeichelhaften Frauenbildes vermittelt.

Nicole Ruggle am 12. Mai 2022

Dieser Beitrag ist eine Reaktion auf den Artikel unseres Gastautors Artur Terekhov vom 10. Mai 2022.

«Jene Kreise, die sonst sehr oft nach staatlichen Eingriffen rufen, haben eher wenig Respekt vor unschuldigem Leben“, schreibt Artur Terekhov und bezieht sich dabei auf die jüngsten Proteste (aus linken Kreisen) um einen geleakten Urteilsentwurf des US Supremecourts. Dieser sieht vor, dass künftig jeder einzelne US-Bundesstaat selbständig über seine Abtreibungspraxis entscheidet.

Dezentralisierung ist aus libertärer Sicht zu begrüssen. Darum geht es in Terekhovs Plädoyer aber nicht. Es ist der Versuch, mittels durchschaubarem Tribalismus die libertäre Szene für einen Altmänner-Konservatismus zu gewinnen. Dafür spricht der Versuch, diverse sachfremde Themen (Corona, Abtreibung etc.) über das Feigenblatt von staatlichen Abwehrrechten hinweg miteinander zu verknüpfen, um eine angeblich libertäre Position zu unterstreichen.

Verletzung des Selbsteigentums

Viele, die sich üblicherweise laut gegen staatliche Restriktionen wehren, hegen neuerdings feuchte Träume nach einer intermediären, das Selbsteigentum (Körper) anderer einschränkender Gewalt. Zumindest dann, wenn es um weibliche Reproduktionsorgane geht. Das Tränendrüsenargument „unschuldiges Leben zu schützen“ (das an emotionale/moralische Erpressung erinnert – die Königsdisziplin der politisch korrekten Linken), soll vertuschen, dass es hier in Wahrheit um die Beschneidung des Selbsteigentum von Frauen geht. Terekhov plädiert in seinem Text dafür, diese durch staatliche Gewalt ausser Kraft zu setzen, und bezieht sich dabei angeblich auf Libertarismus – während er simultan die Untergrabung dessen Prinzipien predigt.

«Geht man davon aus, dass ein Embryo bereits eine eigenständige Rechtspersönlichkeit hat, ist es nichts als konsequent, dass dieser vom Staat mit den Mitteln des Strafrechts geschützt wird», schreibt Terekhov. Belegen kann er diese Behauptung im Text nicht. Der Jurist redet zwar von «Schutz» des Embryonen, in Wahrheit geht es hier aber um eine Verletzung des Selbstseigentums der Frau durch staatliche Gewaltandrohung. In anderen Worten: Wird eine Frau schwanger, wird ihr Selbsteigentum verstaatlicht. Das dürfte kaum im libertären Sinne sein.

Weiter schreibt Terekhov «Auf den Umstand, dass der Embryo noch nicht allein lebensfähig ist, kann es argumentativ nicht ernsthaft ankommen, müsste man sonst auch zweijährige Kinder oder Behinderte umbringen dürfen.» Damit versucht er seine Behauptung, ein Embryo besitze den Status einer eigenständigen Rechtspersönlichkeit, zu untermauern.

Terekhov macht hier einen gravierenden Denkfehler: Im Mutterlieb ist der Embryo untrennbar (und lebensnotwendig!) mit dem Körper der Mutter verbunden, kann genau genommen als abhängiges, reproduziertes Element in diesem Stadium nicht als eigenständige Entität gewertet werden. Denn: Endet diese Abhängigkeit zu früh, ist die Folge der unweigerliche Tod des Ungeborenen. Es kann sich folglich nicht um eine eigenständige – das heisst: vom Körper der Mutter unabhängige und getrennte! - Persönlichkeit, Entität, handeln.

Dieses Ausmass von Abhängigkeit ist weder bei einem zweijährigen Kind noch bei einem behinderten Mensch der Fall. Argumentativ werden hier Äpfel mit Birnen vermischt.

Treibt man Terekhovs Arumgentationslinie weiter voran, dann wäre der Mutter während der Schwangerschaft Suizid staatlich untersagt, da der Schutz des Ungeborenen höher gewertet werden würde als ihr Anspruch auf ihr ureigenstes Selbsteigentum: Ihren Körper/Ihr Leben. Das Selbsteigentum der Frau umfasst nach libertärer Auffassung auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Wir reden hier de facto von einer krassen Verletzung des negativen Freiheitsbegriffs. Daran ändert auch Terekhovs unbelegte Behauptung nichts - gerade, weil diese als Alibiübung für die Ausserkraftsetzung herhalten soll.

Staatlich aufgezwungene Schwangerschaft

Dass ein negativer Freiheitsbegriff nach Terekhov umfassen soll, einer Frau die Fortführung einer Schwangerschaft, einer Geburt sowie eine ungewollte Mutterschaft staatlich (d.h.: unter Zwang!) zu verordnen (mit sämtlichen einzukalkulierenden Gefahren: Trauma, Tod, körperliche und psychische Schäden) ist schlicht Unsinn. Wer ein solches Bild staatlicher Abwehrrechte pflegt, der sollte dringend noch einmal über die Bücher. Staatlich erzwungene Kinder sind nicht libertär.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Terekhovs eigene Partei auf ihrer Webseite verlautbaren lässt: „Keinem Menschen und keiner Gruppierung steht es zu, Menschen mit Gewalt oder Androhung von Gewalt zu etwas zu zwingen und dadurch in ihrem Selbsteigentum einzuschränken.“

Argumentativer Genickbruch

Auffällig ist, dass Terekhov scheinbar libertäre Argumentation mit der gleichzeitigen Sehnsucht nach staatlicher Gewaltanwendung, respektive Gewaltandrohung vermischt, die er als «Schutz» von Rechten bezeichnet, die aber in Wahrheit genau das Gegenteil zur Folge haben: Verletzung von Rechten. Letztendlich vollführt Terekhov einen argumentativen Genickbruch, indem er sich in unwürdiger Phrasendrescherei auf Stammtischniveau verliert.

So sei «eine Frau mit Abtreibungswunsch» («Ich hatte Spass ohne Verantwortung. Aber die Last eines Kindes will ich gerade nicht tragen. Wie wunderbar, dass die arbeitende Bevölkerung über die Krankenkasse meinen Eingriff finanziert»), so Terekhov wörtlich – gleichzusetzen mit profanen Alltagsvorlieben von jemanden, der gerne «Würste, Pommes oder Berliner» isst oder «gerne rauche» – und die Gesellschaft für die aus diesem Handeln resultierenden Konsequenzen mitverantwortlich machen wolle.

Terekhovs Pseudoargument zeichnet ein entwürdigendes Frauenbild: Der Beweis, dass abtreibungswillige Frauen selbst nicht zur arbeitenden Bevölkerung gehören, bleibt er schuldig. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ein ungewolltes Kind im Laufe seines Lebens die Allgemeinheit mehr kostet als eine Abtreibung. So viel zur Kostenanalyse.

Als Jurist müsste ihm weiter klar sein, dass nach dem Verursacherprinzip immer zwei Menschen für die Zeugung (und somit auch für die Verhütung) eines (ungewollten) Kindes verantwortlich sind. Die Tatsache, dass eine der zwei Parteien einen Penis besitzt, entbindet diese in keinster Art und Weise von dieser Verantwortung.

Dass das Versagen von Verhütungsmittel, oder die Praxis, dass Männer ohne Zustimmung das Kondom während des Geschlechtsaktes abziehen (im Fachbegriff: Stealthing - im Internet leiten sich schwachsinnige Männer Anleitungen dazu weiter) zu einer ungewollten Schwangerschaft führen können, blendet der Autor in seinem Plädoyer ebenfalls aus.

Terekhovs Argumentationstaktik erinnert an den Wunsch, den Willen der Frau durch intermediäre Gewalt zu untergraben (ansonsten: Nötigung – strafbar!), um sich mittels «demokratischer» Legitimation (von Hans Hermann-Hoppe als freiheitsfeindlich entlarvt) an den Rechten Anderer zu vergreifen. Weiter zeigt sich eine Tendenz zu einer vollständigen Übertragung der Verantwortung reproduktiver Handlungen von Männern auf die Frauenwelt, was einer Infantilisierung des männlichen Geschlechts gleichkommt.

Oder in anderen Worten: Wie es mit Terekhovs libertärem Prinzip der Eigenverantwortung vereinbar ist, dass 100 Prozent aller ungewollten Schwangerschaften durch Männer mitverschuldet werden, die im entscheidenden Moment offenbar heillos damit überfordert sind, sich ein hauchdünnes Stück Gummi über ihr hartes Pfiifäli zu ziehen – diese Antwort bleibt der Jurist bis zuletzt schuldig.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Nicole Ruggle

Nicole Ruggle ist Redaktorin beim Nebelspalter und betreut dort das Dossier «Sicherheit».

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.