Bis Ende 2022 müssen wir warten, um herauszufinden, ob die Coronamassnahmen im Jahr 2020 zu mehr Suizidfällen geführt haben. Dafür gibt es wortreiche Begründungen des Bundes. Tatsache ist aber, dass ein grober Überblick schnell vorhanden wäre – wenn man denn wollte. Wir zeigen wie.
Corona – die Massnahmen, nicht das Virus – wirkt sich auf die Psyche der Menschen aus. Das zeigen entsprechende Fallzunahmen in Psychiatrien, bei Kindertherapeuten, bei Hilfshotlines. Es ist auch nur logisch. Der allgemeine Ausnahmezustand, fehlende soziale Interaktion, geschlossene Treffpunkte für Leute, die allein sind: Das alles trifft nicht nur, aber vor allem Menschen, die ohnehin bereits angeschlagen sind.
Ob diese Ausgangslage auch dazu führt, dass mehr Menschen den Freitod wählen, ist nicht bekannt. Und wir werden es auch erst im Dezember 2022 erfahren; wir haben berichtet. Aufgrund einer Anfrage des Berner SVP-Nationalrats Lars Guggisberg und verschiedenen Interventionen bei der Verwaltung, unter anderem von seinem Ausserrhoder Parteikollegen David Zuberbühler, kamen danach aus dem Eidgenössischen Departement des Innern einige Erklärungsversuche.
Unterm Strich lautet die offizielle Begründung, dass die Erhebung der Suizidfälle eine komplexe Sache sei, in welche die Ärzte involviert seien. Es gibt einen Austausch, man muss immer wieder nachfragen, die Daten müssen codiert werden und so weiter. Der Informationsaustausch frisst demnach Zeit, es fehlt an Ressourcen in der Verwaltung.
Zudem wird immer wieder betont, es gehe im Fall des Coronajahrs 2020 ja nur unwesentlich länger. Man brauche dieses Mal zwei Jahre, um die Zahlen zu präsentieren, aber auch schon in den letzten Jahren seien diese jeweils erst etwa nach 1,5 Jahren zusammengetragen gewesen. Mit der offiziellen Auskunft des Departements wird suggeriert, dass es sowieso ein Ding der Unmöglichkeit sei, die Suizidzahlen des Jahrs 2020 zeitnah, nämlich demnächst, vorzulegen, weil es schon immer länger ging.
Das mag mit der Brille der Bundesverwaltung so sein. Regional tätige Journalisten fanden diese Darstellung stets etwas seltsam, weil wir uns gut erinnern, dass wir immer im Frühjahr bereits Suizidzahlen des vorangegangenen Jahres irgendwo gesehen haben.
Und das ist auch der Fall. Wäre es dem Departement ein Anliegen, schneller an zumindest grobe Zahlen zu kommen und so allenfalls einen Trend festzustellen, auf den man reagieren muss, dann könnte es das tun. Und zwar einfach und schnell.
Denn darum geht es letztlich: Die Öffentlichkeit muss wissen, welche Kollateralschäden die Massnahmen haben. Nur so lässt sich überprüfen, ob sie verhältnismässig sind.
Der einfache Weg, den übrigens das Departement des Innern auf eine Nachfrage von Nationalrat Lars Guggisberg vermutlich unbewusst selbst skizziert, läuft über die Kantone. Diese legen jeweils im März die polizeiliche Kriminalstatistik vor. Diese ist ein wichtiges Werkzeug für die Kantonspolizeien. Sie haben damit einen Barometer, der anzeigt, ob gewisse Deliktarten unverhältnismässig ansteigen und können reagieren, beispielsweise mit vermehrter Prävention oder einer Verlagerung ihrer Ermittlungsaktivitäten.
Die Kriminalstatistik umfasst in den meisten Kantonen aber nicht nur Straftaten und ihre zahlenmässige Entwicklung. «Mitgenommen» werden auch andere Vorfälle, die von der Polizei bearbeitet werden, aber nicht als Straftat zu werten sind. Dazu gehören beispielsweise Unfälle (die oft in einer eigenen Statistik vorgestellt werden), Brandfälle, aber auch Suizide und Suizidversuche. Dort, wo sie festgestellt werden, ist die Polizei im Spiel, und diese Ereignisse werden aufgenommen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Bereich, der nicht das Strafgesetzbuch betrifft, rein quantitativ sogar einen erheblichen Teil der Polizeiarbeit ausmacht.
Der Unterschied ist aber: Die Kantonspolizei übermittelt die Informationen zu den Straftaten immer ans Bundesamt für Statistik. Was die anderen Vorfälle angeht, bei denen kein Delikt im Spiel ist, ist es Sache des jeweiligen Kantons, ob diese Informationen zum Bund weitergehen oder nicht.
Aktuell ist es also so, dass einzelne Kantone – wenn sie Lust dazu haben – sehr wohl berechnen können, wie sich die Rate der Suizide und Suizidversuche im letzten Jahr entwickelt hat und wie der Vergleich zu den Vorjahren aussieht. Mehr noch, sie müssten wohl nicht einmal gross rechnen. Denn die Kantonspolizei nimmt diese Vorfälle ohnehin auf, die Zahlen sind also da. In vielen Kantonen werden sie im März, also in wenigen Wochen, schwarz auf weiss vorgelegt werden.
Auf nationaler Ebene, auf diesen Standpunkt stellt sich das Departement des Innern, könne man aber nicht mit einer Übersicht dienen, weil die Übermittlung der Zahlen vom Kanton zum Bund freiwillig sei. Von einem Kanton kommen sie, vom andern nicht. Wer mehr wissen will, muss also im März die Kriminalstatistiken von 26 Kantonen wälzen und den Taschenrechner aus der Schublade nehmen. Vollständig wird das Bild auch dann nicht sein, weil nicht alle Kantone diese Zahl in der Kriminalstatistik erheben oder transparent machen.
Sicher ist aber: Vorhanden sind diese Zahlen, weil keine Kantonspolizei einen Suizid einfach ignoriert und nicht irgendwo festhält. Irgendwo schlummern diese Zahlen auf jeden Fall, und zwar in der ganzen Schweiz.
Bei entsprechender Motivation wäre es also ein Leichtes für das Departement des Innern, spätestens im März 2021, wenn die Kriminalstatistiken vorliegen, die kantonalen Zahlen abzugrasen. Selbst wenn einige Daten fehlen, sieht man immerhin bereits von Kanton zu Kanton, ob es Verschiebungen gab, ob die Zahl der Suizidfälle beispielsweise zugenommen hat, und wenn ja, in welchem Mass. Das Personal für diese rein administrative und nicht besonders komplexe Aufgabe hat die Bundesverwaltung mit Sicherheit. Und irgendjemand dort wird sogar über Excel verfügen, das reicht dafür aus.
Gemessen an der offiziellen Auskunft aus Bern sieht es aber so aus, als würde es das Departement von Alain Berset lieber dem einzelnen Bürger überlassen, sich durch 26 Kriminalstatistiken zu lesen, um mehr herauszufinden. Alternativ dazu wäre es schön, wenn sich eine der zahlreichen Organisationen, die sich dem Schutz der Psyche der Menschen in der Schweiz verschrieben haben, diese Aufgabe vornehmen würde. Das wäre eine echte Dienstleistung von unschätzbarem Wert.
Und wenn das auch nicht passiert, bleibt es eben an uns hängen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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