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Eine Polemik

Was ist mit unseren Kirchen los?

Global sind im Jahr 2020 viele neue Brandherde entstanden. Nicht aufgrund von Corona, sondern durch die Massnahmen, auch denen, die bei uns ergriffen werden. Wo bleibt das Christentum in dieser Situation? Und wo die Kirchen? Ein Gastbeitrag von Benjamin Kilchör.

Benjamin Kilchör am 27. Januar 2021

Um 200 n. Chr. herum wütet in Alexandria die Pest. Bischof Dionys schreibt 50 Jahre später (Eusebius, Kirchengeschichte VII, 22 und IX, 8):

«Die meisten unserer Brüder schonten aus grosser Nächstenliebe ihre eigene Person nicht und hielten fest aneinander. Furchtlos besuchten sie die Kranken, bedienten sie sorgfältig, pflegten sie um Christi willen und schieden freudig zugleich mit ihnen aus dem Leben … Ja, viele starben selbst, nachdem sie andern durch die Pflege die Gesundheit wieder verschafft und deren Tod gleichsam auf sich selbst verpflanzt hatten … Bei den Heiden aber fand gerade das Gegenteil statt. Sie stiessen diejenigen, welche zu erkranken begannen, von sich, flohen von den Teuersten hinweg, warfen die Halbtoten auf die Strasse und liessen die Toten unbeerdigt liegen … Als dies bekannt wurde, pries man den Gott der Christen.»

In dieser sicher nicht ganz neutralen Darstellung wird die Relevanz der christlichen Kirche darin gesehen, dass sie sich in der Zeit der Seuche anders verhält als die anderen. Noch der nicht gerade christentumsfreundliche Albert Camus geht in seinem Roman «Die Pest» (1947) selbstverständlich davon aus, dass auch auf dem Höhepunkt der Seuche Gottesdienste als sinnstiftende Ereignisse stattfinden. Die heutigen Kirchen kämpfen nicht um würdige Gottesdienste. Notfalls kann man den Laden auch auf unbestimmte Zeit schliessen, die freie Ausübung der Religion ist ein Nice to have wie der Kinobesuch.

Kollateralschäden der Corona-Politik

Nun könnte man sagen: Die Kirche soll sich ja auch nicht für sich selbst einsetzen, sondern für die anderen, wie bei der Pest in Alexandria! Aber tut sie das? Laut Einschätzung des UNO-Welternährungsprogramms gibt es verlässliche Anhaltspunkte, dass wegen der Corona-Situation fast 150 Millionen zusätzlicher Menschen durch den Hungertod bedroht sind. In den Medien wird dafür immer Covid-19 die Schuld gegeben, Grund ist aber nicht die Krankheit, sondern die Medizin, nämlich die Massnahmen. Und zwar nicht nur die Massnahmen in den Drittweltländern, sondern auch die Massnahmen bei uns: Wegfall des Tourismus, Unterbrechung der Lieferketten (Beispiel Sudan: Eine Heuschreckenplage, die nicht eingedämmt werden kann, weil keine Pestizide geliefert werden, führt zu grossen Ernteausfällen). Sagen die Kirchen etwas dazu? Nein. Höchstens bitte etwas mehr Entwicklungsgelder.

Der deutsche Journalist Boris Reitschuster hat am 29. Dezember 2020 auf seinem Blog reitschuster.de auf die Feuerwehrberichte der Berliner Feuerwehr zum Punkt «Beinahe Strangulierung / Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden» hingewiesen: 2018 sieben Einsätze, 2019 drei Einsätze, 2020 allein bis Oktober 294 Einsätze. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsspital Lausanne vermeldete im Sommer einen Anstieg stationärer Behandlungen um 50%, hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit Angststörungen und Aggressionen.

Der österreichische Neurowissenschaftler und Psychotherapeut Raphael Bonelli berichtet in einem Youtube-Beitrag vom 22. Januar 21 von «Triage in der Kinderpsychiatrie»: Man kann nicht mehr alle aufnehmen. Auf Lars Guggisbergs (SVP Nationalrat) Frage nach den Suizidzahlen für 2020 antwortet der Bundesrat, diese würden im Dezember 2022 (!) veröffentlicht. Berichte von betagten Menschen in Alters- und Pflegeheimen, die über Wochen oder Monate einsam sind und vielleicht nochmals im Sterben unter Einhaltung aller Hygienemassnahmen besucht werden dürfen, kursieren vermutlich in den Bekanntenkreisen von uns allen. Sagen die Kirchen etwas dazu? Nein. Bleiben wir doch solidarisch alle zu Hause und zünden eine Kerze an. Tiefgründige Spiritualität.

Wo bleiben die christlichen Werte?

Es geht eben nicht um Gesundheit versus Wirtschaft. Die politischen Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, für deren Nutzen die regierungsnahen Expertengremien noch immer keine tragfähige wissenschaftliche Evidenz vorbringen können, greifen nicht nur die Wirtschaft an, sondern die Gesellschaft, die Psyche, den Menschen in seinem Menschsein. Ich wage es, als christlichen Standpunkt zu beanspruchen: Vieles, was im Kampf gegen Corona getan wird, ist menschenverachtend. Doch die Kirchen ziehen sich darauf zurück, nichts falsch zu machen, der Politik den Rücken zu stärken – was immerhin damit gedankt wird, dass sich 50 Personen zum schweigenden, gesichtsverhüllten Hören von Predigten versammeln dürfen, was natürlich ein Privileg, keine Selbstverständlichkeit, ist (die anderen dürfen ja noch weniger).

Viel wurde diskutiert über den Verlust der christlichen Werte in der Gesellschaft. Doch nicht die Gesellschaft, sondern die Kirchen haben die christlichen Werte verloren. Nicht die Gesellschaft, sondern die Kirche hat sich säkularisiert. Das oberste Ziel ist es nicht mehr, den Menschen in seinem Menschsein, in dem, was über das materielle, irdische Leben hinausgeht (und damit ist nicht nur die christliche Jenseitshoffnung, sondern auch der Transzendenzbezug im Diesseits gemeint, der im christlichen Glauben seinen tiefsten und unverzichtbaren Ausdruck in der Feier des heiligen Abendmahls findet), anzusprechen, ihn in diese Gemeinschaft des Glaubens hineinzunehmen, die nicht durch Zoom-Meetings ersetzbar ist. Das oberste Ziel ist es, in der öffentlichen Wahrnehmung gut – nein: nicht schlecht – dazustehen. Ja kein positiver Sars-Cov-II Test, der auf eine Übertragung in einer kirchlichen Veranstaltung zurückzuführen ist!

Dadurch, dass man nicht negativ auffällt, vielleicht sogar ein bisschen Lob kriegt, erhofft man sich offenbar, wieder mehr Systemrelevanz zu gewinnen. Vielleicht erinnern sich die Kirchen irgendwann der Worte des Bischofs Dionys, dass gesellschaftliche Unauffälligkeit nicht unbedingt zur gesellschaftlichen Relevanz beiträgt. Dafür braucht es schon ein bisschen mehr. In den Worten Jesu (Matthäus 16,25-26):

«Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?»

Doch gute Presse kann man damit momentan vermutlich nicht bekommen.

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Autor/in
Benjamin Kilchör

Dr. Benjamin Kilchör (*1984) ist evangelischer Theologe und Professor für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel.

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