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Der Corona-Skandal, Teil 3

«Hinter tausend Stäben keine Welt»

So dichtete Rilke über einen gefangenen Panther. Das Bild passt ausgezeichnet auf den Wildwuchs an Schweizer Krisenstäben. Dritter und letzter Teil der Serie von «Die Ostschweiz».

«Die Ostschweiz» Archiv am 28. Mai 2020

Zu Teil 1 der Serie.

Zu Teil 2 der Serie.

Die Erklärung für das anfängliche Versagen des Bundesrats ist vielschichtig. Zunächst arbeiten öffentliche Verwaltungen nach bewährten bürokratischen Prinzipien. Tritt ein Ereignis jeglicher Art ein, wird der Beamtendreisprung vollführt: Bin ich dafür zuständig? Wenn ja, gibt es dafür eine Rechtsgrundlage, muss ich mir zuerst Know-how aneignen? Und schliesslich: Muss das jetzt sofort sein? Wobei jeder Beamte weiss, dass die weiseste Entscheidung immer keine Entscheidung mangels Zuständigkeit ist. Den der kann man nicht vorwerfen, falsch zu sein.

So verlor sich in diesem Drahtverhau aus Zuständigkeiten und Krisenstäben zum Beispiel die immer dringendere Bitte des Tessins, die Grenzen zu Norditalien schliessen zu dürfen. Der BAG-Sprecher Daniel Koch musste das mit beruhigenden Worten zukleistern, man «beobachtet» die Situation aufmerksam. In Wirklichkeit wollte der Bundesrat lange Zeit jegliche Panik in der Bevölkerung vermeiden. Bis ihn die Bilder aus der Lombardei schockierten. Dass es immer die gleiche Kolonne von Armeelastwagen war, die Särge abtransportierten, fiel ihm dabei nicht auf. Hinter den tausend Krisenstäben mit ihren Beamtenheeren verschwand die Welt wie im Rilke-Gedicht über den eingesperrten Panther in Paris.

Zudem muss man sich vor Augen halten, wie der als Kollegium organisierte Bundesrat funktioniert. Nämlich von Mittwoch zu Mittwoch. Hier findet die Bundesratssitzung statt, hier beginnt und endet irgendwann der komplizierte Vernehmlassungsprozess mit Mitbericht, Ergänzungen, Einwänden, politischem Störfeuer. Da aber der Bundesrat, wie er selber in der Ablehnung der Motion schrieb, die oberste Verantwortung hat, hat er auch zuallererst Schuld am Versagen des Krisenmanagements.

Die Wurzel des Übels ist auch hier schnell gefunden. Der Bundesrat will kein Fitzelchen Macht abgeben. Das müsste er aber, wenn er einen funktionierenden Krisenstab installieren würde. Funktionierend bedeutet, dass dieser Stab schlichtweg hierarchisch aufgebaut ist. So wie die im Jargon Blaulicht-Abteilung genannten Organisationen wie Polizei, Feuerwehr, Krankenhäuser, Zivilschutz und Armee. Hier hat auch die Krisenbewältigung geklappt, soweit sie nicht von den Krisenstäben behindert wurde.

Ein solcher Krisenstab wäre dann auch die Anlaufstelle für alle Informationen. Er wäre zudem für die Kommunikation zuständig. Und für die Ausarbeitung von Handlungsoptionen aufgrund einer Analyse der Situation. Diese Handlungsoptionen würden dann dem Bundesrat als Entscheidungsgrundlage dienen. So funktioniert das in jeder besseren Firma, so funktioniert das im Bund nicht.

Das fängt schon bei der Kommunikation an, hört da aber nicht auf. In einer Krise braucht es ganz oben eigentlich eine einfache Aufgabenverteilung. Der amtierende Bundespräsident spielt die Landesmutter, die sozusagen die Oberleitung hat, beruhigt, ermuntert. Simonetta Sommaruga ist hingegen weitgehend abgetaucht. Sie verkündete, dass nun ein Ruck durch die Schweiz gehen müsse. Offenbar hat es dann genügend geruckelt; sie fügte dem nur noch hinzu, dass nächstes Jahr die Gebühren für SRF gesenkt werden.

Auf der zweiten Ebene müsste der Fachminister kommunizieren, in diesem Fall der Bundesrat Alain Berset. Er müsste die fachlich richtigen Leitlinien setzen. Das tat er aber am Anfang nicht, weil er selbst noch unsicher war, welche Massnahmen zu ergreifen seien. Also wurde der pensionsreife Leiter der BAG-Abteilung «Übertragbare Krankheiten» Daniel Koch an die Front geschickt. Das ging solange einigermassen gut, bis es um die genauen Rahmenbedingungen des Wiederanfahrens der Wirtschaft ging. Hier verwandelte sich die Kommunikation in eine Kakophonie.

Das Schweizer föderalistische System mit einer obersten Kollegialbehörde ist auf gegenseitiger Rücksichtnahme aufgebaut. Das ist in vielen Situationen grossartig. In einer Krisensituation führt es zu einem integralen Versagen. So werden zum Beispiel rechtzeitige Warnungen, wie die des mit Wuhan vertrauten Professors Paul Vogt, irgendwo im Bürokratiedunkel unbeachtet abgelegt.

Keinem einzigen Beamten oder Entscheidungsträger soll unterstellt werden, er habe absichtlich oder wissentlich versagt. Aber den Oberverantwortlichen, also dem Bundesrat, muss vorgehalten werden, dass er das Krisenmanagement versemmelt hat. Zum einen, weil er sich die oberste Entscheidungsbefugnis vorbehalten will. Zum anderen, weil er trotz vielen Ratschlägen und dringlichen Mahnungen es nicht für nötig hält, den dysfunktionalen Krisenstab auf eine funktionierende Basis zu stellen. Denn in Krise geht nur Hierarchie, kein freundschaftliches Rücksichtnehmen auf Befindlichkeiten und Kompetenzen und eifersüchtig bewachte Gärtchen.

Es kann ja nicht sein, dass die Landesregierung solch drastische, noch nie dagewesenen Entscheidungen wie der Lockdown von Wirtschaft und Gesellschaft fällt, aufgrund von schockierenden TV-Bildern und beim Starren aufs nähere Ausland und was dort gemacht wird. Es kann auch nicht sein, dass Vorratshaltung, Vorbereitung und Umsetzung des ja im Prinzip vorhandenen Pandemieplans dermassen fahrlässig in den Sand gesetzt werden. Passiert ist passiert. Aber wie soll Churchill so richtig gesagt haben: Never waste a good crisis. Was bedeuten soll: Verschwende nie eine gute Krise. Sondern lerne daraus, wiederhole deine Fehler nicht. Das ist dringend geboten. Denn das nächste Virus kommt bestimmt. (Siehe unten «3»)

Während sich die Medien mit Lobhudeleien über den führungsstarken, krisenerprobten und kompetenten Bundesrat samt Krisenstab und BAG überschlugen, herrschte in Wirklichkeit ein elendes Durcheinander von Kompetenzen, Zuständigkeiten und sich selbst im Wege stehenden Stäben. Einerseits wollte der Bundesrat keine Entscheidungsbefugnis, keine Macht an einen straff organisierten Krisenstab abgeben. Andererseits zögerte und zauderte er, drastische Massnahmen zu ergreifen. Er hoffte allzu lange, dass man durch Aussitzen vor grösseren Schäden bewahrt bleiben würde. Aber hier gilt wie nirgends sonst: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Der Bundesrat und die Schweiz sind haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, so das Urteil verschiedener Fachleute aus den Krisenstäben. Ob der Notstopp der Wirtschaft und Gesellschaft keine ist, sei dahingestellt. Es muss aber dringlich eine öffentliche Debatte über Verbesserungen stattfinden. Denn neben dem Fehlen einer klaren hierarchischen Struktur fehlt dem Bundesrat und dem Krisenstab noch etwas, was in der Wirtschaft völlig normal und üblich ist: Es gibt kein Debriefing. Also die nachträgliche Analyse, was gut, was schlecht, was verbesserungswürdig war. Deshalb muss diesmal ein solches Debriefing öffentlich stattfinden.

Denn die Etappe drei hat gerade erst begonnen. Es kommt die zweite Welle. Die Pleitewelle. Die Rezession, die Massenarbeitslosigkeit. Die Zeit der einbrechenden Steuereinnahmen, während Sozialwerke wie die Arbeitslosenversicherung, aber auch die AHV am Kollabieren sind. Bei der die 40 Prozent Kurzarbeiter sicherlich nicht in überwältigender Mehrzahl den Weg zur Vollbeschäftigung zurück findet. Die Zeit des Kassensturzes, der nach diesen Fehlentscheidungen gnadenlos ausfallen wird.

Zusätzliche Materialien:

Die Zeitachse

26.12. 2019: Dr. Jixihan Zhan diagnostiziert vier ungewöhnliche Pneumonie-Fälle, davon drei in der gleichen Familie, und informiert die Gesundheitsbehörden am nächsten Tag.

30.12. 2019: Nach weiteren Fällen beginnen die Gesundheitsbehörden in Wuhan, aktiv nach Erkrankten zu suchen.

31. 12. 2019: Die nationalen Behörden in China und die WHO werden informiert.

7.1. 2020: Covid-19 wird identifiziert, am 12. Januar wird seine Genom-Sequenz veröffentlicht.

13.1. 2020: Die ersten Test-Kits sind in China erhältlich.

23.1. 2020: Wuhan wird unter Quarantäne gestellt, am nächsten Tag 15 weitere Städte, dann die ganze Provinz mit 60 Millionen Einwohnern.

30.1. 2020: Die WHO erklärt den globalen Gesundheitsnotstand.

Bis zu diesem Datum bestand die einzige sichtbare Reaktion der Schweizer Behörden und des Bundesrats in einer ersten Pressekonferenz am 28. Januar mit dem Gesundheitsminister Alain Berset und dem BAG-Zuständigen Daniel Koch. Koch behauptete fälschlicherweise, es gebe noch keine Fälle ausserhalb Chinas.

3 Versagt in allen Altersklassen

Legt man die offiziellen Zahlen des BAG zugrunde, sieht es in der Schweiz bislang so aus: An oder mit COVID-19 Verstorbene unter 65 Jahren und ohne Vorerkrankung: 3. In Worten: drei. Weitaus am meisten Opfer forderte das Virus bislang bei älteren Menschen mit Vorerkrankung; das Medienalter aller Todesfälle, die etwas mit COVIDS-19 zu tun haben, liegt bei 84.

Fast alle dieser Verstorbenen lebten in Altersheimen oder Pflegeinrichtungen. In einzelnen Kantonen kann man sogar eines oder wenige Pflegeinrichtungen identifizieren, wo die Mehrzahl der Verstorbenen zu verzeichnen sind.

Der Lockdown von Wirtschaft und Gesellschaft kostete bislang mindestens 100 Milliarden Franken und hatte keine signifikante Auswirkung auf die vorher schon sinkende Reproduktionszahl R, also die Zahl der Neuinfektionen. 40 Prozent der gesamten werktätigen Bevölkerung der Schweiz steckt in Kurzarbeit; bei 3 ansonsten gesund Verstorbenen vor dem Pensionierungsalter steht hier Aufwand und Ertrag, wie er auch in der Sozialgesetzgebung bei Behandlungen eingefordert wird, in keinem Verhältnis.

Dagegen kam und kommt es bei der schnell identifizierten Hochrisikogruppe, alte Menschen mit Vorerkrankungen, zu einer signifikanten Übersterblichkeit. Im Wesentlichen verursacht durch das Fehlen von primitivsten Schutzmitteln wie Hygienemasken, Desinfektionsmittel oder Schutzkleidung. In der reichen Schweiz fertigten sich Pfleger Mundmasken aus Servietten, Schutzkleidung aus Plastiksäcken an, und benützten alle möglichen Ersatzmittel zur Desinfektion.

Die vielen Krisenstäbe des Bundes, damit auch der Bundesrat als oberster Verantwortlicher, haben in allen Altersklassen versagt. Für den Schutz der Unter-65-Jährigen, die bislang insgesamt, inklusive Vorerkrankten, rund 100 Tote zu beklagen haben, wurde Wirtschaft und Gesellschaft ins Wachkoma versetzt. Die Kollateralschäden sind noch gar nicht überblickbar. Dagegen wurde der konsequente Schutz der Hochrisikogruppe, die Überwachung und Kontrolle von Pflegeheimen und die Ausrüstung der dort Tätigen sträflich vernachlässigt.

Da es bis heute – ein Skandal – noch keine belastbaren Zahlen gibt, wie viele Infizierte es in der Schweiz insgesamt gibt, wie gross der Prozentsatz der symptomlos Angesteckten und dadurch Immunisierten ist, nur eine signifikante, wenn auch nicht repräsentative Zahl. In einem grösseren Altersheim im Kanton Zürich wurden als Vorbereitung für Besuche zum Muttertag sämtliche Bewohner getestet. Resultat: Über 60 Prozent von ihnen waren positiv. Hatten sich also infiziert, waren aber symptomlos mit dem Virus fertiggeworden.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
«Die Ostschweiz» Archiv

«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.

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