Vreni Peterer aus Unterschlatt ist als Kind von einem Priester vergewaltigt worden. Als Präsidentin der IG für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld fordert sie: «Die Lügen müssen endlich aufhören.»
1002 Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche Schweiz seit 1950 – diese Zahlen sind das Ergebnis einer Pilotstudie, für die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich die Archive der katholischen Kirche untersuchten, mit einem Augenmerk auf sexuelle Übergriffe. Seit diese Zahlen in der vergangenen Woche bekannt wurden, haben sich zahlreiche Betroffene aus der ganzen Schweiz bei Vreni Peterer gemeldet. Die Innerrhoderin – selbst eine Betroffene – ist seit Februar Präsidentin der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG-M!kU).
«Seit der Medienkonferenz von vergangener Woche ist die Glaubwürdigkeit von Bischöfen und Priestern bei der IG sehr gering», sagt sie. «Die Lügen müssen endlich aufhören. Die Täter sollen zu ihren Vergehen stehen und nicht mehr geschützt werden.»
Die IG habe kein Verständnis dafür, dass Bischof Joseph Maria Bonnemain die Untersuchung gegen seine Kollegen führen solle: «Uns hat fast der Schlag getroffen.» Für sie ist es eine logische Konsequenz, dass die Bischöfe ungehorsam gegenüber dem Papst sein müssen, um ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
«Eine Restangst ist bei mir eingebrannt»
Es ist Anfang der 1970er-Jahre, als die kleine Vreni im Alter von zehn oder elf Jahren in einem Dorf am Bodensee vom Pfarrer vergewaltigt wird. «Seine gelben Finger sehe ich immer noch vor mir», sagt Vreni Peterer. Mit diesen Fingern streichelt ihr der Pfarrer im Religionsunterricht über die Hand und am Rücken. «Wenn du etwas sagst, kommst du in die Hölle», sagt er zu ihr. «Eine Restangst ist bis heute eingebrannt», sagt die 62-Jährige. «Ich fürchte mich vor dem Augenblick, wenn ich beim Sterben allein bin.»
Und es gebe auch Momente, in denen sie getriggert werde. So geschehen in diesen Tagen, als der St. Galler Bischof Markus Büchel sagte, eine Pressekonferenz sei für einen Bischof fast wie ein Fegefeuer. «Da habe ich gedacht, er glaubt also daran, dass es ein Fegefeuer gibt.» Sie werde das Bischof Büchel noch mitteilen, was eine derartige Bemerkung bei Betroffenen auslösen könne. Das Bistum schätze solche Rückmeldungen. Und sie hofft, damit einen Kulturwandel anzustossen.
Keine Worte für die unguten Gefühle
Fast 50 Jahre dauert es, bis Vreni Peterer über die Geschehnisse von damals reden kann. Sie habe gewusst, dass es sich nicht gut anfühle, aber keine Worte dafür gehabt. Dazu kam Scham. «Wir waren nicht aufgeklärt», sagt sie. «Und gegen Pfarrer, Polizist und Lehrer durfte man nichts sagen.» Sie versucht zu funktionieren. «Ich wusste lange nicht, dass der Missbrauch das Problem meines Lebens ist.»
Tief in ihr drin staut sich das Unausgesprochene. Als 20-Jährige muss sie bereits eine Magenspiegelung vornehmen. Sie hat Angst davor, nicht beziehungsfähig zu sein. Sie hat Probleme mit Berührungen. Gute und schlechte Phasen wechseln sich ab. «Die beste Zeit war die Familiengründung mit der Geburt unserer zwei Söhne», sagt die Innerrhoderin, die lange beim «Rheintaler» und Radio Ri gearbeitet hat.
Das Fass zum Überlaufen gebracht
Vreni Peterer ist Pfarreirätin, in der Frauengemeinschaft aktiv und als Schulratspräsidentin für die Fusion von Schlatt und Haslen zuständig. «Etwas Banales bei einer Sitzung hat das Fass zum Überlaufen gebracht.» Sie tritt am 23. Dezember 2005 in die psychiatrische Klinik in Littenheid ein, um wieder stabil zu werden. «Dass ich vor Weihnachten meine Kinder verlassen musste, war etwas vom Schlimmsten», sagt die zweifache Mutter. «Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil nun auch meine Kinder leiden mussten.»
Missbrauch ist Realität: «Dich zeige ich an»
Einige Jahre vergehen, Vreni Peterer nimmt Antidepressiva. 2018 beginnt sie die entscheidende Therapie. Der Therapeut fordert sie auf zu erzählen. Sie stottert, bevor sie die Worte endlich aussprechen kann: «Der Pfarrer isch es gsi.»
Sie fasst den Entschluss, nach dem Foto des Pfarrers zu googeln. Als sie sein Gesicht sieht, wirft sie ihr Handy weg. «Ich hatte das Gefühl, dass er mich anschaut.»
Beim fünften Anlauf sagt sie zum Foto: «Dich zeige ich an.» Sie sucht im Internet nach Missbrauch und Kirche und stösst auf das Fachgremium des Bistums St. Gallen. Am 4. Juli 2018 meldet sie den Pfarrer. Drei Wochen später entscheidet sie sich, das Grab des Pfarrers aufzusuchen. Es existiert aber bereits nicht mehr.
Keine Rede von Fehlern oder Missbrauch
Sie verlangt Akteneinsicht. Aus der kirchlichen Akte erfährt sie, dass der Pfarrer in den 1950er-Jahren zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden ist, weil er im Religionsunterricht Mädchen zu nahe gekommen sei. «In dieser Akte war nur Smalltalk, keine Rede von Fehler oder Missbrauch.» Erst im St. Galler Staatsarchiv findet sie die Notizen der Verhöre mit den Kindern. «Das war für mich die absolute Bestätigung, dass der Missbrauch keine Fantasie war, sondern Realität.»
«Ich bin eine Überlebende, das fühlt sich stärker an»
Gespräche mit Ansprechpersonen aus dem Fachgremium sowie in der Selbsthilfegruppe geben Vreni Peterer Kraft. Sie sieht sich heute nicht mehr als Opfer, sondern als Überlebende. «Ein Opfer ist schwach», sagt sie. «Ich hatte aber die Kraft zum Überleben. Ich bin eine Überlebende, das fühlt sich stärker an.»
Diese Botschaft gibt sie an andere Betroffene weiter. In den Gesprächen mit ihnen könne sie sich gut abgrenzen. «Ich bin gefestigt, höre zu, vermische ihre Geschichte aber nicht mit meiner eigenen.» Das Erlebte bleibe für immer im Leben. Die Aufarbeitung brauche Kraft. «Die Verarbeitung gibt einen Sinn», sagt sie. «Ich kann ein Gesicht, ein Sprachrohr für andere sein.»
Suizid und Depressionen sind Gedanken, die viele Betroffene beschäftigen. Menschen, die eine Depression durchgemacht haben, gelten als nicht belastbar. «Dabei sind solche Menschen mit ihrer Lebenserfahrung wertvoll und bereichernd für ein Team, für die Gesellschaft», sagt Vreni Peterer.
Es dauert lange, bis die Betagtenbetreuerin den Mut hat, über das Erlebte zu reden. «Jetzt höre ich nicht mehr auf, denn reden tut gut», sagt sie. Wünsche an die Kirche hat Vreni Peterer nicht mehr, vielmehr eine Forderung: Die IG will seit eineinhalb Jahren eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer.
«Ich bleibe und will ein Stachel sein»
Die Missbrauchsfälle haben viele veranlasst, aus der Kirche auszutreten. Vreni Peterer ist immer noch dabei. «Seit einer Woche schwanke ich sehr», gibt sie zu. «Ich bin innerlich zerrissen.»
Sie frage sich, ob sie noch glaubwürdig sei, wenn sie in der Kirche bleibe. Allerdings gibt es für sie auch Gründe zu bleiben. «Wieso sollen Betroffene gehen?» fragt sie. «Jene, die etwas getan haben, sollen gehen.» Sie wolle ihnen nicht das Feld überlassen.
Zu einem Austritt aus der Kirche würde Vreni Peterer nie aufrufen. «Ich begreife jeden, der geht, aber auch jede, die bleibt.» Sie selbst hat in der letzten Woche gemerkt, wie viel ihr die kirchliche Gemeinschaft immer noch bedeutet. Sie bleibe auch aus Solidarität mit den zahlreichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die an der Basis gute Arbeit leisten würden und jetzt unter Generalverdacht stünden. «Ich glaube, ich kann mehr bewirken, wenn ich bleibe», sagt sie. «Ich will ein Stachel sein.»
Anlaufstellen für Betroffene
In der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld stehen Betroffene und nicht direkt Betroffene dafür ein, dass Missbrauch im kirchlichen Umfeld, sei er körperlicher oder seelischer Art, nicht totgeschwiegen wird. Die IG fordert , dass die Kirche für Folgen von Missbrauch die Verantwortung übernimmt, dass Betroffene professionell begleitet werden und Missbrauchstäter aus kirchlichen Tätigkeiten ausgeschlossen werden.
In der Selbsthilfegruppe der IG können sich Betroffene über ihre belastenden, oft sehr schmerzvollen Erlebnisse austauschen. Die Selbsthilfegruppe ersetzt jedoch keine Therapie. Unterstützung erhalten Betroffene ebenso bei der Opferhilfe SG-AR-AI (www.ohsg.ch). Wer bereit ist, im Rahmen des weiterführenden Forschungsprojekts 2024–2026 über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche zu berichten, kann sich melden unter forschung-missbrauch@hist.uzh.ch.
Mehr Informationen zur IG unter ig-gegen-missbrauch-kirche.ch. Informationen zur Selbsthilfegruppe unter missbrauch-kirche.ch, info@missbrauch-kirche.ch oder 077 461 65 52.
Hinweis
Dieser Text ist zuerst auf Rheintaler.ch erschienen.
(Bild: Maria Kobler)
Maria Kobler ist Redaktorin beim «Rheintaler».
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