Die Kirchen machen ihre Senioren älter, als sie sind. Dabei ginge es auch anders.
Morgens um acht startet ein Car, vollbesetzt mit erwartungsvollen Kirchensteuer zahlenden Ü70ern. Bald gibt es den ersten obligatorischen Halt im «Rössli» mit Kaffee und einem Gipfeli, militärisch ausgerichtet auf den Tischen.
Dann wird wieder gefahren, die Standardziele sind der Rheinfall bei Schaffhausen, Luzern, Davos. Mittagessen mit Schnipo und einem Einerli Tiroler Leiten. Die Stimmung steigt. Eine Stunde Freizeit, die meisten bleiben sitzen und bestellen einen Kaffee-Lutz auf eigene Rechnung. Heimfahrt mit Pinkelhalt an einer Raststätte und um sieben sind alle wieder zuhause.
Dies ist die Urform der Anbindung an die Kirchen; vielleicht im Laufe des Jahres noch ein paar gottesdienstähnliche Stunden mit Beten, Singen, Hoffen – fertig ist die Unterhaltung für Senioren. Sie ist noch häufig in Gebrauch, eher häufiger bei den Katholiken als bei den Reformierten. Die Menschen sind zufrieden, weil alles immer ziemlich gleich abläuft, man erzählt sich dasselbe wie schon in den vergangenen Jahren und der Pfarrer hat endlich Zeit, mit jedem ein paar Worte zu reden.
Diese Generationen sind zwar am Aussterben, doch die Tradition der simplen Ausflüge bleibt: «Sie haben ja schon immer gut funktioniert.»
Die heutigen Alten kennen Cars vielleicht noch aus der Jugend, sie sind ein Leben lang individuell Auto gefahren, haben die ganze Welt gesehen und waren schon öfters privat am Rheinfall, in Luzern und Davos. Sie melden sich nicht mehr an, sie erwarten kirchliche Angebote modernerer Art, möglichst etwas Anderes als das Gewohnte, gerne Kritisches, Exotisches, ja sogar Riskantes.
Aber davor haben die allermeisten kirchlichen Organisatoren panische Angst, denn «es muss ja allen gefallen», sonst hagelt es Proteste, die beim «schwarzen Kern der Kirchgemeinde» landen, das sind schwarz gekleidete, traditionell denkende, kompromisslose ältere Damen. Nicht viele, aber sehr einflussreiche. Und dabei haben Senioren einen hohen Bedarf an Abwechslung der besonderen Art, die ihnen noch zu selten geboten wird.
Ein Leuchtturm ist die evangelisch-reformierte Kirche in Rorschach, wo regelmässig über das Jahr neue, bunte Veranstaltungen angeboten werden, Musik von klassisch bis Pop, Lesungen, Diskussionen, Reiseberichte, Filme. Da sind nicht immer alle sehr zufrieden, aber der Mix macht es, und der Erfolg gibt ihnen Recht: es sind immer 100 bis 150 interessierte Zuhörer, Tendenz steigend – davon träumen viele Kirchgemeinden.
Um dies aber zu erreichen braucht es halt Mut und Ausdauer und den Willen aus dem ewig Gleichen auszuscheren.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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