Morgens um 8 Uhr ist die Welt noch in Ordnung. Die Frage ist aber ein Mal im Jahr stets: Wann ist denn eigentlich 8 Uhr?
Die Schweiz ist ein einziges Dorf: Von Genf bis Chur reiht sich im Mittelland Siedlung an Siedlung. Man hat sich daran gewöhnt, direkt an einer Autobahn oder an einer Flugpiste zu wohnen, die Fabrik nebenan macht Tag und Nacht einen Riesenlärm, die S-Bahn donnert unter dem Haus durch - der Fortschritt fordert seinen Tribut.
Dazwischen, fast schon wie ein Relikt aus alten Zeiten, der Bauer, oft unbeliebt, einerseits wegen seines untrüglichen Instinkts, an besonders schönen Sommerabenden Gülle auszufahren und somit flächendeckend Grillabende zu verstinken, andererseits mit seinen Kuhherden, die aus alter Tradition und wohl auch für Touristen mit Glockengeläut die Ruhe der Nachbarn ruinieren.
Was früher als Inbegriff positiver Ländlichkeit galt, ist heute, wo Siedlungen die wenigen Wiesen umzingeln, zum Streitfall geworden und mittlerweile in gut schweizerischem Kompromiss mehr oder weniger gelöst: Die Kühe bleiben im Stall - bis 8 Uhr!
Jahrelang hatte die Nation die Prozesse entnervter Anwohner verfolgt, die Parteien schienen unversöhnlich. Die Bauern pochten auf die natürlichen Instinkte der Kuh, bei Sonnenaufgang fressen gehen zu müssen, die Villenbesitzer wollten nicht, dass der Schönheitsschlaf ihrer Frauen unterbrochen würde und forderten Ruhe bis zehn Uhr. Schliesslich entschied das Oberste Schweizer Gericht, dass 8 Uhr der vernünftigste Kompromiss für Natur und Zivilisation sei und drohte bei Nichtbefolgen mit hohen Geldbußen.
Alle schienen zufrieden, nur die eigentlich Betroffenen nicht, und so spielt sich seitdem Morgen für Morgen in den verbliebenen Ställen das Gleiche ab. Kurz nach Sonnenaufgang werden die Kühe unruhig: Sie stampfen, muhen lauthals, schütteln sich und inszenieren damit ein Dauergeläute, das immer stärker wird; die natürliche Ungeduld entlädt sich um 7 Uhr 59 - genauer als jede Quartzuhr -, wenn der Bauer die Stalltür öffnet und sie wie eine nordamerikanische Büffelherde unaufhaltsam auf die Weide stürmen und die Schweiz in ein kathedrales Geläute eintauchen, das alle Autobahnen und Fabriken übertönt.
Irgendwie scheinen die Kühe ihr Schicksal akzeptiert zu haben; nur zwei Mal im Jahr kommen sie ins Grübeln: Wieso dürfen sie im April früher raus, und warum müssen sie ab Oktober wieder länger im Stall warten?
Leider haben Juristen nicht verfügt, dass jemand den verwirrten Tieren den Unterschied zwischen Sommer- und Winterzeit klar machen muss.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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