Nach dem Beststeller «Der letzte Feind» (2020) präsentiert Giuseppe Gracia mit «Der Tod ist ein Kommunist» ein Buch, das sich liest wie ein vergnügter Fiebertraum. Die Antwort auf den Wahnsinn unserer Corona-Zeit. «Die Ostschweiz» publiziert das gesamte Buch in mehreren Teilen – inklusive Audiofile.
Das Buch kann über den Verlag oder Orell Füssli bestellt werden.
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Kapitel 6
Bevor Hofstetter gehen konnte, öffnete sich die Tür, und die beiden Gorillas, die ihn hergebracht hatten, betraten den Raum. Waldenroder gab ihnen einen Befehl (fremde, altorientalische Sprache), und die Gorillas nickten.
Sie führten Hofstetter ab. Sie brachten ihn zu einem Lift, fuhren mit ihm ins Erdgeschoss. Dort wartete ein dritter Gorilla, der sie schweigend nach draussen begleitete, in einen Innenhof, in dem ein Minibus stand.
«Stopp,» sagte der dritte Gorilla.
Alle blieben stehen.
«Was ist los?» fragte der erste Gorilla.
«Ja,» sagte der zweite Gorilla. «Was ist los?»
«Ihr haltet die Klappe und haut ab,» antwortete der dritte Gorilla.
Dabei richtete er die Waffe, die er plötzlich in der Hand hielt – eine dunkelgraue Pistole – auf die anderen Gorillas.
Als diese nicht reagierten, weil sie wohl nicht verstanden, was das zu bedeuten hatte, schoss er ihnen in den Fuss. Diesmal hielt sich der Krach in Grenzen, da der dritte Gorilla einen Schalldämpfer benutzte. Und weil die Getroffenen zu Boden sanken ohne grosses Geschrei, stark und zäh, wie sie waren.
Der dritte Gorilla drängte Hofstetter auf den Beifahrersitz des Minibus, sprang hinter das Steuer, setzte zurück und lenkte den Wagen, hurtig die Gänge wechselnd, aus dem Innenhof.
Sie befanden sich, so schien es, auf einem Industriegelände mit Fabriken, Laderampen, Bürogebäuden. Ein verlassenes Areal.
«Der Schalldämpfer war überhaupt nicht laut,» sagte Hofstetter. «Unglaublich, wie leise Sie mich gerettet haben. Wer sind Sie?»
«Sie stehen unter Schock,» erwiderte der Fahrer. «Beruhigen Sie sich. Sie sind in Sicherheit. Brenner schickt mich. Wir treffen das Team im Luchador Express.»
«Wo?»
«Mexikanisches Restaurant. Die Familie kennt das aztekische Geheimnis. Im Moment unwichtig.»
Hofstetter wollte wissen, ob Nathalie auch da sein würde. Der Fahrer gab keine Antwort.
Sie fuhren die Strasse entlang; man hätte meinen können, es sei ein übertrieben langweiliger Sonntag, so wenig Verkehr gab es.
Sie nahmen, für etwa zehn Minuten, die Autobahn. Dann erreichten sie, rund einen Kilometer nach der Ausfahrt, ein Restaurant mit roten, heruntergelassenen Fensterläden, an der Tür ein Schild: «Cerrado/Geschlossen».
Drinnen waren die Lichter gelöscht, die Tische leer. Sie gingen nach hinten, vorbei an Abstellräumen, in denen Lebensmittel zu sehen waren, Kartonschachteln, Wäschekörbe, eine Waschmaschine. Im letzten Raum wartete Brenner mit seiner Gruppe.
Nathalie war nicht dabei. Neben Brenner nur der Mercedes-Fahrer, Nathalies eifersüchtiger Freund und ein älteres, mexikanisches Paar, vermutlich die Besitzer des Lokals.
«Wo ist Nathalie?»
«Geht dich nichts an,» grunzte der Eifersüchtige.
Brenner befahl ihm, den Raum zu verlassen: er solle, zusammen mit dem Mercedes-Fahrer, draussen vor dem Restaurant die Augen offen halten.
Als die beiden gegangen waren, stellte Brenner das Paar vor: Señor y Señora Flores.
«Ich werde für Sie kochen,» meinte Señora Flores. «Sie sehen dünn aus, Sie brauchen Kraft. Mein Mann bringt Wasser und Mezcal.»
«Ich bin überhaupt nicht dünn,» erwiderte Hofstetter.
Trotzdem begab sich Frau Flores in die Küche, zusammen mit ihrem Mann.
«Lassen Sie sich nicht provozieren,» empfahl Brenner.
Damit meinte er Nathalies Freund, oder besser gesagt ihren Exfreund. Ja, zu seiner Überraschung erfuhr Hofstetter nämlich, dass sich Nathalie schon vor der Reise in die Vergangenheit (also in der Zukunft) von diesem Kerl getrennt hatte, dass sich der Eifersüchtige jedoch weigerte, die Trennung zu akzeptieren.
Das wiederum konnte Hofstetter verstehen. «Ich war auch jedes Mal am Ende, wenn mich die Freundin verlassen hatte, nach mehreren, über Monate verteilten Seitensprüngen mit Männern, die viel mehr verdient haben als ich.»
«Kam das oft vor?»
«Genau ein Mal. Aber es fühlte sich an wie acht Mal. Oder neunzehn Mal.» Hofstetter hielt inne. «Ich will wissen, wo Nathalie ist.»
Brenner erklärte es ihm. In der Zwischenzeit war einiges geschehen. Genauer gesagt hatten der Mercedes-Fahrer, Nathalie und ihr Ex bei Tagesanbruch – also vor acht Stunden – offenbar den Versuch unternommen, den Professor aus der Klinik Hobelberg zu befreien. Brenner hatte das Fluchtauto gefahren. Leider war die Aktion schief gelaufen, es hatte einen Zusammenstoss mit Vonneguts Leuten gegeben.
«Vonnegut?»
«Ja. Auch sie haben versucht, den Professor aus der Klinik zu holen. Es kam zu einer Schiesserei. Sie haben sich durchgesetzt.»
«Sie haben sich durchgesetzt?»
«Vonneguts Leute haben den Professor. Wir waren in der Unterzahl.»
«So laute Maschinenpistolen, und nichts erreicht.»
«Schlimmer. Sie haben Nathalie. Sie haben sie als Geisel.»
Hofstetter war fassungslos.
«Was für eine bösartige Wende,» sagte er. «Das Leben ist wirklich fragwürdig.»
Brenner stimmte zu. «Nathalie sagte mir vor der Zeitreise, dass sie Ihnen ihre Liebe schenken möchte.»
Hofstetter schlug mit der Hand auf den Tisch. «Wir müssen die Polizei rufen!»
Brenner meinte, das sei keine gute Idee.
«Nein?»
Brenner schaltete ein TV-Gerät ein, in der Ecke gegenüber, auf einem Tisch unter einem Plakat mit mexikanischer Bier-Werbung. Auf dem Schirm erschienen Szenen aus den Nachrichten, dann Bilder der Klinik Hobelberg, Fotos vom Professor und von Hofstetter.
«Das Bild wurde an der Neujahrsfeier im Büro geschossen,» erinnerte sich Hofstetter. «Ich war betrunken und deprimiert, deshalb der geistig behinderte Gesichtsausdruck.»
«Sieht genauso aus,» bestätigte Brenner. «Die hätten ein besseres Foto nehmen können. Jedenfalls: Sie werden von der Polizei gesucht. Man nimmt an, Sie hätten den Professor entführt.»
«Ich? Ich bin mehr der passive, reaktive Typ.»
Brenner schaltete das Gerät aus, dann starrte er ihn an, und je länger der Ernst und die Stille des Starrens andauerten, desto niedergeschlagener fühlte sich Hofstetter. Zum Glück kam Señora Flores zurück, mit würzig riechendem, mexikanischen Essen, und Señor Flores mit Mineralwasser und Mezcal.
Hofstetter hatte nicht gewusst, wie hungrig er war, bis er zu essen begann. Er hatte auch nicht gewusst, wie gut Mezcal schmeckte.
«Dieses Foto!» beklagte er sich.
Das Ehepaar Flores verstand nicht, und Brenner schaltete das TV-Gerät wieder ein und wartete, bis Hofstetters Fahndungsfoto auftauchte.
«Si!» rief Senora Flores. «Muy feo!»
«Was sagt sie?»
«Das Bild sei nicht so schlimm,» erklärte Brenner.
«Ein Alptraum.» Hofstetter liess sich Mezcal nachschenken. «Der Professor wird entführt, weil man ihm das Herz herausreissen will. Ich werde von der Polizei gesucht, während Nathalie verschwindet, bevor wir Kinder zeugen können. Und Herr Waldenroder gehört zu einer Weltuntergangs-Sekte.»
«Un sueno oscuro,» antwortete Frau Flores. «Gefangen sind wir in dunkle Traum. Schwimmen in Sangre und Vino von Göttin, schwimmen en las profundidades del tiempo.»
«Das klingt nicht gut.»
Brenner winkte ab. «Sie übertreibt.»
«Ahhh!» machte Frau Flores. «AHHH!»
«Nur eine Trance,» versicherte Brenner. «Sie kommuniziert mit den aztekischen Ahnen.»
«Sueno! Traum de la diosa Coatlicue, grande purificacion!» Frau Flores breitete ihre kurzen, flinken Arme aus. «Alles Menschen sterben müssen de la muerte, dann geboren werden en la sangre! Wenn wir nicht aufhalten la diosa, wenn wir nicht zeigen, nosotros mejor. Wenn wir nicht zeigen, dass Menschen besser sind, dann kommen los fantasmas de la oscuridad!»
«Sie verstehen?» fragte Herr Flores.
«Vollkommen,» erwiderte Hofstetter. «Es ist alles ein Traum im Traum. Ein Traum der Göttin, in den der Alptraum der Menschen hineingeflossen ist, wie ein Zeitstrom aus Wein und Blut.»
«Si,» nickte Frau Flores. «Poético.»
Hofstetter hasste es, wenn sich sein mieses Gefühl als angemessen herausstellte. Er musste wieder an Nathalie denken. An ihr Lächeln, an ihre liebe, warme Stimme.
«Wir müssen etwas tun,» sagte er. «Dieses Essen ist gut, Señora, dieser Mezcal hervorragend, aber wir verlieren Zeit! Wir müssen Nathalie und den Professor retten.»
«Das hätten wir längst getan,» erwiderte Brenner. «Wenn wir wüssten, wohin man sie gebracht hat.»
«Sie wissen es nicht?»
Brenner nahm seine Brille ab, begann sie mit einem kleinen Tüchlein zu putzen. Für einen Moment schien es, als lasse er den Kopf hängen. «Wir wissen nicht einmal, wo die Zürcher Loge ihren Tempel hat.»
«Die Loge von Herr Waldenroder?»
«Wir konnten es nicht herausfinden. Wir wissen nur, dass das Ritual in drei Stunden stattfindet. Bei Sonnenfinsternis.»
«In drei Stunden?»
«Ja.»
«Hören Sie, Brenner. Ich weiss, wo sich der Logen-Tempel befindet.»
«Sie wissen es?»
«Ja, das überrascht mich selber. Ich arbeite im Wirtschaftsressort, aus dem sonst nie etwas Wichtiges kommt.»
Brenner nickte.
«Es war Herr Waldenroder. Er hat es mir gesagt. Der Tempel befindet sich unterhalb der Münsterplatzkirche. In der Altstadt von Zürich.»
Brenner wurde unruhig, wollte Details wissen. Hofstetter erzählte ihm von der Begegnung mit Waldenroder. Daraufhin liess Brenner den Mercedes-Fahrer und Nathalies Ex rufen, die immer noch draussen die Gegend überwachten, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen.
Der Eifersüchtige glaubte Hofstetter nicht: «Ich bitte euch! Der Meister der Loge persönlich verrät diesem Trottel einfach so, wo das Ritual stattfindet – das sollen wir glauben?»
«Hast du eine bessere Spur?» Brenner wirkte verärgert. «Wir bereiten alles vor, um den Tempel zu stürmen.» Er warf einen Blick auf den Bildschirm an seinem Handgelenk. «Wir brechen in einer Stunde auf. Dann bleiben uns zwei Stunden bis zum Ritual.»
«Zwei Stunden, um in den Tempel unter der Münsterplatzkirche einzudringen und uns zu verstecken,» sagte der Mercedes-Fahrer. «Zwei Stunden, um sie zu überraschen.»
Hofstetter wollte wissen, warum sie Nathalie und den Professor nicht sofort befreien konnten.
«Weil sie noch nicht im Tempel sind,» erklärte Brenner. «Sie dürfen den Tempel erst betreten, wenn der Ritus begonnen hat. Man wird sie in der Zwischenzeit darauf vorbereiten. Mit den rituellen Waschungen und dem Zeremoniell der liturgischen Gewänder.»
«Waschungen?»
«Man wird den Professor in die Herzensgewänder der heiligen Blutstaubblüten von Cholula hüllen. Mit der Tunika des ewigen Lichts. Nathalie hat grüne Augen, also wird man sie der Göttin als Frühlingsmädchen der Lustgärten und der goldenen Fruchtbarkeit präsentieren.»
«Goldene Lustgärten?»
«Nein, die Fruchtbarkeit ist golden, die Lustgärten sind grün.»
Hofstetter überlegte. «Heisst das, beim Ritual wird Nathalie ebenfalls geopfert?»
«Nur die grünen Augen.»
«Ach so.»
«Ojos verdes,» nickte Frau Flores. «Muy precioso.»
«Was für ein Wahnsinn,» flüsterte Hofstetter. «Herr Waldenroder sollte wissen, dass wir nicht mehr im Zeitalter von Sklaverei, Menschenopfer und Augenhandel leben. Heute haben wir Samenspende, Präimplantationsdiagnostik und Leihmutterschaft.»
Señor Flores, Ehemann von Frau Flores, bisher still, erhob sich von seinem Platz.
«Una ora,» sagte er. «Nicht viel Zeit uns bleibt.»
Frau Flores hob die Hand: «Si! Wir jetzt machen Oracion. Dann wir müssen vorbereiten la ‘Calea tremenda’ und das ‘Ah-Puch’.»
«So ist es, meine Freunde,» bestätigte Brenner. «Ich fürchte, wir müssen alles in Erwägung ziehen, auch das Schlimmste.»
Die Anderen schwiegen, obwohl Hofstetter unbedingt wissen wollte, was eine «Calea tremenda» war, und erst recht, was ein «Ah-Puch» war.
Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater. Sein neuer Roman «Auschlöschung» (Fontis Verlag, 2024) handelt von der Selbstauflösung Europas.
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