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«Unsympathisches Vorgehen»

Fall Vincenz: Ein neuer «Straftatbestand» taucht auf

Im öffentlichen Scherbengericht werden dem tief gefallenen ehemaligen Raiffeisen-Boss immer absurdere Vorwürfe gemacht. Was er sich nun zuschulden kommen liess: Er schöpft seine rechtlichen Möglichkeiten aus.

«Die Ostschweiz» Archiv am 01. Juli 2019

Zunächst: Pierin Vincenz und sein Kompagnon Beat Stocker sind so unschuldig wie Sie und ich. Denn bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Gut, selten so gelacht. Der Ruf, die öffentliche Reputation, die Anerkennung für den unternehmerischen Erfolg von Vincenz, der aus Raiffeisen die Nummer drei auf dem Schweizer Finanzplatz machte: ruiniert, vorbei, beschädigt, nicht mehr zu reparieren.

Das öffentliche Unheil begann am frühen Morgen des 27. Februar 2018. Da klingelte die Staatsanwaltschaft bei Vincenz und Stocker an der Haustüre. In der Folge wurden Akten, Dokumente, Memory Sticks, Computer, Handys, Datenträger jeder Art beschlagnahmt. Zu Hause und an den jeweiligen Arbeitsplätzen. Weiter wurden die beiden zu Einvernahmen nach Zürich transportiert und verbrachten anschliessend über 100 Tage in Untersuchungshaft.

Die Anschuldigung lautet: ungetreue Geschäftsbesorgung. Also absichtlich und unter Schädigung des Arbeitgebers in den eigenen Sack gewirtschaftet. Ein happiger Vorwurf, das kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Allerdings: So schnell die Anschuldigung erhoben werden kann, so schwierig ist der Nachweis. Also vermeldet die Pressestelle der Zürcher Staatsanwaltschaft, die Medien aus dem Hause Tamedia, in regelmässigen Abständen, dass unter Hochdruck gearbeitet werde, eine Anklageerhebung demnächst bevorstehe.

Wohl selber etwas erschöpft von der ständigen Wiederholung, stellte Tamedia vor Kurzem die bange Frage in den Raum, ob die Staatsanwaltschaft, statt unter Hochdruck zu arbeiten, nun gar «lahmgelegt» sei. Durch die Hitze? Nein, durch eine «ausgeklügelte Strategie». Und die NZZ eilt sogar zu Hilfe und lässt zwei «Experten» darüber spekulieren, ob sich Vincenz ein Schuldeingeständnis plus Bussenzahlung gegen Einstellung des Verfahrens überlege.

Wie auch immer, der NZZ fallen nur zwei Gründe für dieses Vorgehen ein, und «beide sind unsympathisch», vorverurteilt das Qualitätsorgan. Himmels willen, was hat Vincenz denn nun schon wieder angestellt? Ungeheuerliches. Er wagt es doch tatsächlich, wie angekündigt alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, die ihm zur Verfügung stehen.

Und dazu gehört, dass er (und wohl auch sein Kompagnon) die Versiegelung der bei ihm beschlagnahmten Daten und Dokumente verlangt hat. «Rechtlich ist das Vorgehen von Vincenz und Stocker sicher korrekt», räumt die NZZ ein. Aber die «Aussenwirkung» sei «fatal». Denn entweder befänden sich belastende Unterlagen unter Siegel, oder aber, man wolle «möglichst viele Fälle zur Verjährung bringen».

Auch in der Hitze des Gefechts sollte doch mit Nachdruck daran festgehalten werden: Es ist das gute Recht jedes Angeschuldigten, eine solche Versiegelung bei einer Hausdurchsuchung zu verlangen. Für den Laien, der das nicht weiss, wird sogar eine Rechtsbelehrung abgegeben, zusammen mit dem Durchsuchungsbeschluss. Es kann also wohl nicht sein, dass der Staatsanwalt, der diese Untersuchung losgetreten hat, vom Antrag auf Versiegelung völlig überrascht wurde, auf dem falschen Fuss erwischt.

Schliesslich liess er schon in seiner Hofpresse verlauten, dass er über genügend Indizien und Beweise verfüge, die eine Anklage rechtfertigen würden. Trotz Hitzestau sollten aber banale Regeln der Logik nicht verbogen werden: Entweder hat die Staatsanwaltschaft genügend Indizien, um den Tatverdacht zur Anklage zu führen. Oder sie hat sie nicht. Entweder war es dem Staatsanwalt schon vor den Hausdurchsuchungen klar, dass deren Ergebnis erst nach zähem juristischen Nahkampf für ihn einsehbar wird. Oder er wurde davon überrascht. In beiden Fällen ist er seiner Aufgabe nicht gewachsen.

Denn immerhin: Obwohl der Ruf, die Unschuldsvermutung schon längst öffentlich ruiniert und ramponiert wurden; eine Anklageerhebung und eine allfällige Verurteilung wird nicht nach der Stimmung eines öffentlichen Scherbengerichts entschieden. Sondern nach Recht und Gesetz. Und dazu gehört, sonst sind wir wieder beim Recht des Stärkeren, bei Willkür und Barbarei, dass der Angeschuldigte nicht seine Unschuld beweisen muss. Und selbstverständlich alle legalen Mittel ausschöpfen darf, um sich gegen Vorwürfe zur Wehr zu setzen.

Richtig, wenn der Angeschuldigte nicht gerade unbemittelt ist, kann er sich dabei den teuren Ratschlag von Staranwälten leisten. Dem armen Schlucker wird ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt, dessen Anstrengungen und Fähigkeiten überschaubar sein dürften. Aber der arme Schlucker wird dafür nicht mit Anlauf und Energie über den Marktplatz der veröffentlichten Meinungen geschleift. In der Schweizer Mediendatenbank finden sich unter dem Namen Vincenz über 8000 Treffer seit März 2018. Und kaum einer der Artikel ist ein Loblied auf ihn. Und auch der arme Schlucker kann selbstverständlich präventiv die Versiegelung aller Unterlagen verlangen, die bei ihm beschlagnahmt wurden.

Ist es möglicherweise unsympathisch, anrüchig, unanständig, geldgierig, grenzwertig, was Vincenz gemacht hat? Mag alles sein. Aber ein ungetreuer Geschäftsbesorger ist er zurzeit nicht. Und wird das auch auf absehbare Zeit nicht sein. Er ist noch nicht mal angeklagt. Und vielleicht wird es auch dazu nicht kommen. Aber das ist reine Spekulation. So wie das weitaus meiste, was über diesen Fall publiziert wird.

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