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Neues Wissensbuch über seltene Krankheiten

Wenn ein vermeintlich «heikler» Esser plötzlich sterbenskrank ist

Ist das eigene Kind nicht gesund, leiden die Eltern mit. Und das noch viel mehr, wenn die Krankheit kaum erforscht ist. So ergeht es vielen Ostschweizer Familien, wie das neueste Buch über seltene Krankheiten aufzeigt.

Manuela Bruhin am 18. November 2023

Jimmys Eltern sind nach wie vor berührt, wenn sie an die kritischen Stunden ihres Sohnes denken, der vor Jahren dem Tod plötzlich viel näher ist als dem Leben. Wenige Sekunden waren es, die über sein weiteres Schicksal entschieden haben. Ein Schicksal, das ohne den Willen und die Durchsetzungskraft seiner Mutter wohl anders ausgesehen hätte. Denn jahrelang sagte ihr das Bauchgefühl, dass mit ihrem Sohn irgendetwas nicht stimmt. Doch die Ärzte taten es als Belanglosigkeiten ab, glaubten ihr nicht. Bis es schliesslich fast zu spät war.

Er schlief viel

So gelb wie der Deckel der Schweppes-Flasche war die Haut ihres Sohnes Jimmy plötzlich, nach vielen Jahren der Ungewissheit. Eigentlich kam der Junge gesund zur Welt, zeigte zu Beginn keine Auffälligkeiten. Er war etwa zwei Jahre alt, als sich dies änderte. Jimmy schlief viel länger als seine grössere Schwester, hatte keinen Appetit, kaum Antrieb genug, um zu spielen. «Wir dachten zwar, dass jedes Kind anders ist – aber dennoch spürte ich, dass etwas nicht stimmte», erinnert sich Jimmys Mutter Katherina Tschenett-Widmer im Gespräch.

Jimmy ass immer weniger, hatte viele Blasen auf der Zunge, sogar ein Nature-Joghurt empfand er als zu scharf. Typische Anzeichen, die auf seine Krankheit hindeuten könnten – wenn sie denn nicht so selten wäre. Die Arztbesuche liefen allesamt ins Leere, die Beschwerden wurden als Allergie abgewinkt. Doch das, so Katherina Tschenett-Widmer, glaubte sie nicht. Man versuchte, den Jungen zum Essen zu animieren. «Doch er übergab sich prompt, es hatte keinen Sinn.» Schliesslich wurde er als «mäkeliger» Esser abgestempelt.

Rettung in letzter Sekunde

Bis zum Tag, an dem das Leben von Jimmy an einem seidenen Faden hing. Er war vier Jahre alt, eine Diagnose stand nach wie vor aus. Weshalb ging es ihm immer schlechter? Katherina Tschenett-Widmer pochte auf einen erneuten Termin beim Arzt, doch so viel Zeit sollte der Familie nicht mehr bleiben. Der Vater stürmte mit dem Sohn die Arztpraxis - es war fünf vor zwölf. Notfallmässig wurde Jimmy ins Kinderspital eingeliefert. Das hartnäckige Vorgehen der Eltern erwies sich als Lebensretter, den Beschwerden des Kindes wurde endlich Aufmerksamkeit geschenkt.

Bei Jimmy wurde mit acht Jahren das Imerslund-Gräsbeck-Syndrom festgestellt. Die Krankheit kommt extrem selten vor, Jimmy galt damals gar als Einziger in der Schweiz, der darunter litt. Die Erbkrankheit verunmöglicht es, dass das Vitamin B12 im Dünndarm aufgenommen wird. Bis etwa vier Jahre konnte Jimmy von der während der Schwangerschaft übertragenen Dosis seiner Mutter zehren, doch das Depot neigte sich schliesslich zu Ende. Das erschreckende Blutbild verdeutlichte, wie schlimm es um ihren Jungen stand. «Hätte der Arzt eine Blutabnahme angefordert, hätte dies den Tod für Jimmy bedeutet», sagt Katherina Tschenett-Widmer und schluckt. Ebenso, wenn er sich verletzt hätte – er wäre aufgrund fehlender Blutplättchen verblutet.

Seither ist Jimmy auf eine Vitamin B12-Spritze angewiesen, die er sich in regelmässigen Abständen von einigen Wochen setzen lassen muss. Ansonsten ist der heute 16-Jährige fit, munter und absolviert gerade eine Lehre. Dass er heute beschwerdefrei leben kann, grenzt an ein Wunder. Ein Wunder, das die Familie auch heute noch, zwölf Jahre später, manchmal nicht fassen kann.

Ihr Schicksal ist im neuen Buch «Seltene Krankheiten – Case Management und Digitalisierung entlasten Eltern» des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten festgehalten. Es soll Betroffenen Mut machen, ihnen Sichtbarkeit geben, das Gefühl vermitteln, dass sie nicht alleine sind. Auch über Anlaufstellen werden sie informiert. «Ich wünsche mir, dass Eltern ernst genommen werden, wenn sie das Gefühl haben, mit ihren Kindern stimmt etwas nicht», sagt Katherina Tschenett-Widmer. Ihre Geschichte beweist, wie wichtig es ist, dass den Angehörigen zugehört wird. Ihren Ausführungen Glauben geschenkt wird. Und es nicht als Lappalie abgetan wird.

Weder kriechen noch laufen

So weit, eine umfassende Diagnose zu haben, ist die Familie von Mira nicht. Das Mädchen ist fünf Jahre alt, und mittlerweile konnte die Krankheit Epilepsie bestätigt werden, wie ihre Mutter Christina Schönholzer mitteilt. «Doch das ist bestimmt nicht ihre einzige Baustelle», sagt sie im Gespräch. Ihre Tochter hat eine Entwicklungsstörung, sie kann weder kriechen noch laufen oder reden. Sie kann sich einzig durch Weinen bemerkbar machen. «Mira ist etwa auf dem Stand eines acht bis zwölf Monate alten Babys», sagt Christina Schönholzer. Durch ihre Wahrnehmungsstörung ist es nicht möglich, ihre Tochter zu vielen Leuten, lauter Musik oder fremden Gerüchen auszusetzen.

Aber was heisst das im Klartext für die Thurgauer Familie? Sie lebt relativ zurückgezogen, beschränkt ihre Kontakte aufs Minimum, Besuch kann, wenn überhaupt, nur zu Hause empfangen werden. «Wird es Mira zu viel, kann sie sich dann in ihr Zimmer zurückziehen», sagt ihre Mutter. Dennoch: Mutet man ihr zu viel zu, kann dies schlimme Folgen haben: durchwachte Nächte für ihre Eltern bis hin zu blutigen Verletzungen, die sie sich selber zufügt. Die corona-bedingte Isoliertheit kam der Familie damals zu Hilfe, aber für sie ist der Zustand nicht vorübergehend, sondern der Standard. «Es ist nicht immer einfach und wir haben in der Vergangenheit oftmals gezweifelt», sagt Christina Schönholzer.

Verständnisvolles Umfeld

Besserung stelle sich ein, seitdem das Mädchen drei Tage das Internat besuchen kann. Das verschafft der Familie Luft, es gibt einen Hauch Normalität zurück. Und auch der grössere Bruder erhält nun die Aufmerksamkeit, die er verdient hat, ihm aber lange verwehrt blieb. «Ansonsten teilen wir uns als Familie eigentlich immer auf. Dass wir Aktivitäten zusammen nachgehen, ist oft nicht möglich», sagt Christina Schönholzer. Viele Menschen hätten für die Situation zwar Verständnis. Aber in manchen Fällen nur bis zu einem gewissen Grad. Gerade, was die Schul-Situation betrifft, wird Christina Schönholzer manchmal mit Unverständnis konfrontiert. «Einige sagen, dass Mira für ein Internat noch viel zu jung sei. Doch jede Familie muss den richtigen Weg finden, der für sie stimmt. Und das tut es bei uns.» Denn Mira müsse rund um die Uhr betreut werden, ein Durchschnaufen sei nicht möglich, wenn sie zu Hause ist. Ohne entlastende Zeitinsel sei dies für die Eltern über all die Jahre schlicht unmöglich, alles alleine zu schaffen. Doch nachvollziehen kann man diese enorme Belastung wohl erst, wenn man in der Situation drinsteckt.

Seltene Krankheiten

Die Betreuung ist das eine, der Umgang mit all den Ämtern, Behörden und Diensten das andere. Wer deckt welche Kosten ab? Wer ist überhaupt wofür zuständig? Wo erhält man Antworten auf die vielen Fragen? Und wo eine Entlastung? «Es ist extrem schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen – und es verschlingt unendlich viel Zeit und Nerven», so Christina Schönholzer. Inzwischen hat man sogar Rechtsanwälte einschalten müssen, die sich um die ganzen Kontrollen der Kostenablehnungen kümmern. «Ein einfaches Therapiegerät kostet schnell einmal zehntausend Franken, damit Mira vielleicht einmal laufen lernen kann, ihre Muskulatur gestärkt wird und sie keine Rückschritte macht. Das übersteigt unser Möglichstes bei Weitem.»

Nötige Fragen

Als Mira zwei Jahre alt war, wurde die Familie auf den Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten aufmerksam. Und ist nun froh, endlich unter Gleichgesinnten sein zu können. Die Geschichte öffentlich zu machen, sei kein bewusster Entscheid gewesen. «Wir haben von Anfang an offen kommuniziert, was mit Mira los ist. Es nützt niemandem etwas, wenn wir unsere Tochter verstecken.» Christina Schönholzer wünscht sich, dass die Menschen fragen, wie sie sich verhalten sollten. Mira hasst es beispielsweise, wenn ihr jemand zur Begrüssung die Hand gibt. Eine lieb gemeinte Geste eigentlich, welche das Mädchen aber überfordert. «Stattdessen kann man ihr leicht über das Bein streichen, damit geht es ihr viel besser», sagt ihre Mutter. Es seien Kleinigkeiten, die den Umgang mit ihrer Tochter erleichtern würden.

Eine Erleichterung ist für die Familie nun auch der besagte Internatsbesuch. «Mira erhält dort die Förderung, die sie braucht – ohne, dass sie überfordert wird.» Ausserdem steigen die Kraftreserven der Familie durch die freie Zeit. «Wenn ich wieder einmal eine Nacht durchschlafen kann, fühle ich, wie die Motivation zurückkehrt. Es ist so wichtig, dass wir das Leben wieder ein wenig lockerer nehmen können.» Denn eines ist klar, wenn auch eine Diagnose noch aussteht: Die Krankheit von Mira ist kein Sprint, sondern ein Marathon.

(Hauptbild Jimmy: Fotograf Jörg Föhn, Bild Mia und Mutter Christina Schönholzer: Fotografin Martina Ronner-Kammer)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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