Börsenanalysten sind teuer und überflüssig. Weil sie glauben, dass beim Würfeln nach einer 5 stets eine 6 kommt.
Neben der Frage, ob es morgen regnet oder die Sonne scheint, bewegt viele Menschen nichts mehr als die Prognose, ob die Börse morgen steigt oder fällt. Es ist so, dass die Meteorologie inzwischen ziemlich gut darin geworden ist, das Wetter von morgen vorherzusagen. Nur selten wird der Passant von einem unerwarteten Regenguss überrascht.
An der Börse ist das anders. Auch hier hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Berufsgattung entwickelt, die mit wichtiger Miene und unglaublich komplizierten Formeln die Bewegung von Aktien analysiert und daraus Prognosen ableitet. Diese Analysten verwenden Algorithmen wie die Black-Scholes-Formel, sprechen von Bollinger-Bändern, Widerstandslinien, dem KGV, dem Einfluss der Griechen und verwenden überhaupt eine Fachsprache, die für den Laien völlig unverständlich ist.
Tut ihnen die Börse den Gefallen, dass sie sich wie ihre Prognose verhält, lassen sie die Champagnerkorken knallen und klopfen sich mit der Miene wissenschaftlicher Überlegenheit auf die Schultern. Verhält sich die Börse aber nicht so, wie sie es vorausgesagt haben, dann schütteln sie mit ebenso wichtiger Miene den Kopf und sind «überrascht» oder sogar «enttäuscht». Denn es ist etwas geschehen, was schlichtweg «unvorhersehbar» war.
In Wirklichkeit sind Analysten zwar teuer, aber völlig überflüssig. Denn ihr ganzes Tun unterliegt einem Grundlagenirrtum. Sie meinen, aus der Untersuchung der Vergangenheit lassen sich gesicherte Modelle für die Zukunft ableiten. Während es aber richtig ist, dass vor einem unendlichen Zeithorizont ein Würfel bei einem Sechstel aller Würfe eine Sechs zeigt, ist es unsinnig, nach fünf Würfen eine Sechs zu erwarten.
Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die Analysten in ihrer grossen Mehrzahl alle Börsenkrisen nicht vorhergesehen. Nicht die Krise von 1987, nicht die Dotcom-Krise und erst recht nicht die Finanzkrise von 2008 oder die Euro-Krise.
Man könnte auch genauso gut den Weissagungen eines Voodoo-Priesters Vertrauen schenken, der Muscheln wirft und aus ihrer Lage und der Anzahl offener Muscheln prognostiziert, ob die nächste Ernte ein Erfolg wird oder den zürnenden Göttern ein Opfer gebracht werden muss, um das zu bewirken. Man könnte auch Alchemisten glauben, dass es ihnen irgendwann doch gelingen wird, Gold aus minderen Stoffen zu gewinnen. Man kann auch Lotto spielen.
Alle diese Varianten sind zudem kostengünstiger als die Beschäftigung ganzer Heerscharen von Analysten. Die tun zwar etwas für ihr Geld, denn die Erstellung all dieser sehr komplizierten Prognosemodelle, für die man fundierte mathematische Kenntnisse braucht, für die richtige Anwendung aller Formeln, ihrer Ableitungen und für die Formulierung der Schlussfolgerungen wird sehr viel Gehirnschmalz verbrannt.
Natürlich ist es auch den Analysten längst aufgefallen, dass ihre Chance, dass das von ihnen vorhergesagte Ereignis an der Börse auch eintrifft, ziemlich genau bei 50 zu 50 liegt. Normalerweise, furchtbar, sogar unterhalb der statistischen Wahrscheinlichkeit. Das kann man behaupten, weil sich sogenannte aktiv gemanagte Fonds mit Fonds vergleichen lassen, die lediglich Börsenindizes abbilden.
Bei den gemanagten Fonds werden Gebühren satt erhoben, weil angeblich rund um die Uhr hochqualifizierte Analysten die Börsen beobachten und die richtigen Entscheidungen fällen. Leider schneiden weltweit gemanagte Fonds nachweislich schlechter ab als Fonds, bei denen kein Analyst entscheidet. Das ist auch logisch, die Eintrittswahrscheinlichkeit von zukünftigen Entwicklungen ist bei beiden Fonds gleich, nur schmälert sich der Ertrag des gemanagten Fonds schon mal durch die Saläre der Analysten.
Aber wie alle Rating-Agenturen sich aus der Verantwortung schleichen, wenn ein von ihnen mit dem Qualitätssiegel AAA versehenes Papier als Ramsch entpuppt, lassen sich natürlich auch Analysten nicht behaften. Denn hier werden nur Meinungen geäussert. Ohne Anspruch auf Verbindlichkeit.
Deshalb findet man bei ausnahmslos jeder Prognose die beiden Wörter «wenn nicht». Morgen geht die Börse baden, wenn nicht. Morgen zischt die Börse in den Himmel, wenn nicht. Morgen ziehen Pharmatitel an, während Bankpapiere nachgeben, wenn nicht. Mehr ist von den Analysten nicht zu haben.
Damit kommen wir zur Beantwortung der Frage, die den Leser sicherlich brennend interessiert: Sind die massiven Tagesverluste der wichtigsten Börsen der Welt in den letzten Wochen ein Vorzeichen für eine sich anbahnende Krise, für einen neuen Schwarzen Freitag, für ein flächendeckendes Absacken der Kurse?
Moment, da werfe ich doch kurz ein paar Muscheln auf den Boden, deute die Zeichen der Götter, schüttle meinen Prognosebecher, schaue in die Glaskugel und lese die Handlinien der wichtigsten Börsianer. Zudem treibe ich meinen Computer fast zur Kernschmelze, indem er mit der rasenden Geschwindigkeit von Teraflops Datenmeere mit ellenlangen Formeln durchpflügt. So, damit komme ich zur völlig sicheren, verlässlichen Vorhersage, dass morgen die Börsenkurse…
Moment, wieso sollte ich so dumm sein, dass allen Lesern gratis auf die Nase zu binden? Nein, tut mir leid, so altruistisch bin ich nicht.
«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.