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Leitartikel

Die Auswahl für die St.Galler Regierung sieht nicht nach Aufbruch aus

Bisher keine Überraschung, weder im positiven noch im negativen Sinn: Das lässt sich feststellen, nachdem FDP, CVP und SP ihre ersten Namen für die Vakanzen in der St.Galler Regierung gemeldet haben. Wirklich elektrisieren kann aber kein einziger der Anwärter. Es droht solide Verlässlichkeit.

Stefan Millius am 21. November 2019

Wie misst man die Qualität eines Gremiums, beispielsweise in der Regierung? Vieles lässt sich erst Jahre später wirklich beurteilen, wenn das, was die Regierung getan hat, einige Zeit in Kraft ist und sich im Alltag bewähren muss. Gewisse Indikatoren sind aber zeitnah: Die Kommunikation im Alltag, die Überzeugungskraft bei Vorlagen, die Strahlkraft gegen aussen. Es gibt in jeder Regierung stärkere und schwächere Figuren. Die starken prägen sie. Sie bleiben in Erinnerung.

Welche Art Regierung hat der Kanton St.Gallen nach der Wahl vom 8. März 2020? Das hängt natürlich vom Ausgang der Wahl ab, aber bereits bekannt ist zumindest der grösste Teil der Auswahl. Deshalb ist eine Beurteilung heute in Grenzen schon möglich.

Die FDP war zuerst, was diese Auswahl angeht. Das war folgerichtig. Denn von ihrem Regierungsrat Martin Klöti war schon länger bekannt, dass er im März 2020 nicht mehr antreten wird; er hat das Pensionsalter erreicht. Seine Nachfolge soll Beat Tinner antreten, Gemeindepräsident von Wartau, langjähriger Kantonsrat und Präsident der FDP-Fraktion. Die Delegierten gaben ihm den Vorzug vor Quereinsteigerin Christine Bolt.

Das ist eine Nomination, die dem bekannten Muster entspricht: Kantonsparlamentarier mit Exekutiverfahrung sind die beliebteste Gattung, wenn es um kantonale Regierungswahlen geht. Tinner erfüllt die allgemeine Anspruchshaltung an die Voraussetzungen für ein Regierungsmandat. Er ist ein solider Schaffer, zuverlässig, sachkundig. Er läuft allerdings kaum unter dem Label Visionär. Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass die wenigsten Wähler auf der Suche nach Visionen sind.

Und zudem haben ja zwei weitere Parteien eine Vakanz zu füllen, und so kann auf diesem Weg vielleicht doch noch die Hoffnung erfüllt werden, dass ein etwas bunteres Element in die Regierung einzieht.

Kann. Tut es aber nicht, so, wie es im Moment aussieht.

Die SP hat nach Heidi Hanselmanns Ankündigung, nicht mehr anzutreten, in Rekordzeit reagiert und Kantonsrätin Laura Bucher aus St.Margrethen nominiert; sie ist Co-Präsidentin der Kantonsratsfraktion. Bezüglich Alter, Werdegang (und natürlich auch Ideologie) ist sie mit FDP-Mann Beat Tinner nicht zu vergleichen, aber auch diese Nomination vermag keine Begeisterungsstürme auszulösen. Bucher wirkt, was ihre Positionen angeht, wie ein jüngeres Abziehbild von Hanselmann, was angesichts der Spitalmisere nun nicht gerade Hoffnungen auslöst. Darüber hinaus ist ihre politische Erfahrung im Parlament das einzige Argument, das sie ins Feld führen kann. Auch wenn die SP in der Ankündigung von der erfolgreichen beruflichen Tätigkeit schreibt, muss man nüchtern feststellen, dass eine solche bei einer Gerichtsschreiberin - was Bucher ist - schwer überprüfbar ist. Mit Sicherheit ist dieser Job eines nicht: Eine Führungsfunktion. Im Gegenteil, sie ist ausgesprochen dienend. Es ist ein grosser Sprung zu einem Regierungsamt.

Kommt dazu, dass die SP nicht einmal intern über diese Nomination gestritten hat. Bucher war die einzige Anwärterin. Damit hatte sie auch nicht die Möglichkeit, sich in einer Ausmarchung in der Partei in Szene zu setzen, im Unterschied zu Tinner, der die Delegierten in einem Zweikampf von sich überzeugen musste. Wer auf seinen zweiten Sitz pocht, müsste der Wahlbevölkerung wenigstens das Gefühl geben, dass die Person, die dafür antritt, sich in der Partei durchgesetzt hat; davon kann man bei der SP nicht sprechen.

Und schliesslich die CVP. Sie entscheidet am 22. November, wer ins Rennen um die Nachfolge von Beni Würth geht, der gerade als Ständerat wiedergewählt wurde. Mit Stand heute sind zwei Namen im Spiel: Die Wiler Stadtpräsidentin Susanne Hartmann und der Noch-Nationalrat Thomas Ammann. Hartmann will zu höheren Weihen gelangen, Ammann will nach seiner - ziemlich unverschuldeten - Abwahl wieder in die Politik zurück. Beide haben Exekutiverfahrung, beiden kann man die entsprechende Erfahrung also schlecht absprechen. Aber auch hier: Den grossen Aufbruch in der St.Galler Regierung versprechen sie nicht. Hartmann führt die Stadt Wil solide, Ammann hat Rüthi solide geführt.

Solide. Solide. Solide. Es zieht sich wie eine rote Linie durch alle Nominationen.

Dabei wäre es in diesem Fall durchaus angezeigt, dass neue Qualitäten Einzug halten. Die St.Galler Regierung braucht die eine oder andere starke Figur, die nicht mitschwimmt, sondern Gegensteuer gibt, wenn es nötig ist. Das hat die Spitalfrage gezeigt, die ja nicht gestern ausgebrochen ist, sondern seit Jahren schwelt. Gerade deshalb wären «lästige» Köpfe gefragt, die den Kurs ihrer Kollegen auch mal hinterfragen. Das Kollegialitätsprinzip gilt dann, wenn eine Entscheidung mal gefallen ist, aber nicht schon vorher. Auf dem Weg dorthin sollte gestritten werden, um die beste Lösung zu erzielen.

Die Schwierigkeit an der Sache ist, dass man keinem der bekannten Anwärter vorwerfen kann, etwas falsch gemacht zu haben. Niemand ist mit Skandalen behaftet, niemand ist vor der eigenen Haustür übermässig umstritten. Die Frage ist, ob sich die Qualifikation für den Regierungsrat wirklich daran messen lassen kann, was nicht gegen jemanden spricht. Man würde lieber eindeutige Argumente für eine Person hören.

Das heute bekannte Teilnehmerfeld lässt sich unter dem Begriff «Verwalter statt Gestalter» zusammenfassen. Bedeutsam ist das umso mehr, als im Frühjahr drei von sieben Leuten ausgewechselt werden. Ein fast zur Hälfte erneuerter Regierungsrat: Das gibt es nicht alle vier Jahre. Und die einzelnen Personalentscheide gewinnen damit noch an Bedeutung.

Mit Blick auf die heutige Regierung darf man feststellen, dass es eine bunte Figur gibt. Sie heisst Martin Klöti. Man kann dem FDP-Mann einiges vorwerfen. Er hat als Chef des Inneren viel Energie in die Bereiche investiert, die ihm persönlich liegen, vor allem in die Kultur. Er war in diesem Sinn vielleicht ein Rosinenpicker. Aber es ist nicht bekannt, dass er darob andere wichtige Themen einfach liegen liess. Und was die Ausstrahlung angeht, war er es am ehesten, der einen Staatsmann verkörperte. Souverän im Auftritt, mitreissend, überzeugend. Es geht hier nicht um die Ideologie oder um konkrete Projekte. Es geht nur um die Wahrnehmung, die er ausgelöst hat.

Natürlich, es bleibt Hoffnung. Die SVP wird wohl versuchen, einen zweiten Sitz zu holen, vielleicht kommt aus der grünen oder grünliberalen Ecke noch eine Kandidatur. Die entsprechenden Namen sind abzuwarten. In der Momentaufnahme sieht es aber nicht danach aus, als hätte St.Gallen nach dem Wahltag im März eine besonders prägende Regierung mit Figuren mit Ecken und Kanten.

Die ewige Debatte, warum der Kanton landesweit nicht mehr Gewicht und Aufmerksamkeit hat, hängt eng mit dieser Frage zusammen. Wer nach aussen wirken will, muss das zuerst gegen innen schaffen.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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