Es war in den frühen 80er-Jahren, als Afrika ans St.Galler Kinderfest kam - und sich beim Umzug zu einer richtigen Sensation entwickelte.
Zufällig hatte ich in diesem Jahr in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts die Sekundarklasse 1a, die beim Umzug ganz vorne laufen durfte. Schon auf den ersten Metern fiel mir auf, dass das Publikum ein besonderes Interesse zeigte, denn es klatschte und winkte viel mehr als gewohnt.
Zuerst bezog ich diese Huldigungen auf meine Person und ich ging etwas gerader und lächelte mehr. Bald zeigten vor allem ältere Damen ihren Unmut und fragten laut, ob dies denn sein müsse. Ich schaute an mir runter: Hose korrekt zugeknöpft, der Hosenbund spannte zwar, denn seit dem letzten Kinderfest waren ein paar Jahre vergangen, doch das konnte es nicht sein.
Erste Fotoapparate richteten sich auf uns, es wurden immer mehr (Gottseidank waren damals die Selfies noch nicht erfunden), ich orientierte mich an der Richtung der Objektive – nein, nicht ich war Objekt dieser besonderen Aufmerksamkeit, es war die Schülerin neben mir.
Kurz darauf riss eine Mutter ihr Baby aus dem Kinderwagen: «Lueg, `s Negerli!» Plötzlich war mir alles klar: Irene war wohl die erste echte Schwarzafrikanerin, die je auf einem Kinderfest mitgelaufen ist.
Die Zuschauermenge wogte nun immer mehr in die Strasse hinein, wenn wir vorbeikamen. Einige wollten sie berühren (dasselbe tun Afrikaner auch, wenn sie zum ersten Mal auf einen Weissen treffen), junge Männer pfiffen anzüglich, denn sie war schon etwas älter als der Klassendurchschnitt, und gewisse Dinge waren bereits entwickelt.
Mein Job als Lehrer war nun, nicht mehr die Schüler in einer perfekten Marschordnung zu halten, sondern Bodyguard für Irene zu sein. Ich schaute sie verzweifelt an, sie antwortete, bevor ich fragen konnte: «No problem, ich bin so was gewöhnt.» Als Südafrikanerin glaubte sie, in eine andere, aufgeklärtere Welt gekommen zu sein.
Der Bewunderungsboom hatte sich wie ein Lauffeuer auf das folgende Publikum ausgebreitet, der Beifall wurde stärker, die dummen Bemerkungen aber auch. Ich fühlte mich als Dompteur eines zum ersten Mal gezeigten Tieres, etwa so, als hätte ich einen weissen St.Galler Bären neben mir.
In den Jahren zuvor war das Ende des Umzuges auf der Kinderfestwiese immer mit etwas Wehmut verbunden, darüber, dass nun alles nach dem vielen Aufwand vorbei ist. Dieses Mal atmete ich erleichtert auf und bewunderte Irene, wie sie mit afrikanischer Leichtigkeit ihre neue Berühmtheit auch auf der Bühne präsentierte, wo sie nun auffiel, weil sie viel eleganter und beweglicher als ihre Mitschüler tanzte.
Wolf Buchinger (*1943) studierte an der Universität Saarbrücken Germanistik und Geografie. Er arbeitete 25 Jahre als Sekundarlehrer in St. Gallen und im Pestalozzidorf Trogen. Seit 1994 ist er als Coach und Kommunikationstrainer im Management tätig. Sein literarisches Werk umfasst Kurzgeschichten, Gedichte, Romane, Fachbücher und Theaterstücke. Er wohnt in Erlen (TG).
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